Zitat von Flipp: Was hat bei dir geholfen, aus der intellektuellen Hochfunktionalität herauszufinden?
Lieber Flipp
Da verstehe ich deine derzeitige Ratlosigkeit nur zu gut. Das affektlose, kognitive Erzählen, wie du es nennst, kenne ich aus meiner Vergangenheit bestens. Mehr als einmal bekam ich von Therapeuten zu hören, wenn man mir zuhöre, habe man den Eindruck, eigentlich sei ich gar nicht wirklich beteiligt an dem, was ich erzähle, ich erzähle so sachlich nüchtern über Dinge, die einen Menschen ja eigentlich verzweifelt, wütend, traurig usw. machen würden.
Die unbarmherzige Tragik dahinter: Wir haben seinerzeit (natürlich nicht bewusst, das hat unser seelisches Immunsystem für uns geleistet) hohe und dicke Schutzmauern um unsere emotionalen Bedürfnisse nach z.B. Zuwendung, Liebe, Kontakt, Geborgenheit, Sicherheit, Beachtung, Anerkennung, Wertschätzung, Ermutigung, Trost ... usw. herum errichtet - um uns zu schützen vor der permanenten Verletzung eben dieser Bedürfnisse. Hinter diesen Schutzmauern sind diese Bedürfnisse dann mehr und mehr gar nicht mehr spürbar geworden - bis in die Gegenwart hinein.
Gleichzeitig haben wir vielleicht, wenn wir z.B. in der Schule gut waren, intellektuell begabt, die Erfahrung gemacht, dass wir damit ein bisschen Anerkennung ergattern konnten. Oder zumindest hat man uns in dieser Beziehung nicht so enttäuscht wie im Bereich der Gefühle. Bei mir war es so, dass ich dem emotionalen Hungertod in der Umgebung meiner Kindheit wohl nur knapp entronnen bin, auch die körperliche Entwicklung zeigte sichtbare Spuren davon, relativ unbeschadet entwickeln konnte sich nur der Intellekt. Da profitierte ich u.a. davon, dass ich in der Schule ein gewisses Ansehen genoss bei den Schulkameraden, weil sie gerne in den Prüfungen von mir abschrieben.
Was bei mir weniger der Fall war (ich wurde in meiner Familie hauptsächlich ignoriert und war einfach lästig), aber bei manch anderen Betroffenen zusätzlich viel Schaden anrichtet: wenn Elternteile ihre eigenen ungestillten emotionalen Bedürfnisse an den Kindern auslassen. Wenn z.B. der Sohn herhalten muss, um der Mutter Trost und emotionale Anerkennung zu geben. Das geschieht natürlich selten offensichtlich, für das Kind nicht erkennbar, aber umso perfider für seinen Zugang zu den eigenen Gefühlen.
So erstaunt es nicht, dass wir als erwachsene Menschen auf dem Weg blieben, auf dem wir uns am sichersten fühlten, nämlich dem intellektuell-akademischen.
Soviel zu möglichen Hintergründen. Damit weisst du immer noch nicht, wie du da herausfindest. Ich kann dir dafür auch kein Rezept geben. Bei mir war es ein viele Jahre dauernder Prozess in kleinen und kleinsten Schritten, mit zahlreichen Rückschlägen und Enttäuschungen, mit unendlich viel Geduld und immer wieder Durchstehen von Durststrecken. Eine so massive Schutzmauer löst sich nicht von heute auf morgen auf, auch nicht auf übermorgen. Ich finde es hilfreich, sich klar zu machen, dass sie seinerzeit einen überlebenswichtigen Zweck erfüllt hat. Und das verletzte Kind, das sich dahinter verbirgt, fühlt die damalige Angst und Panik immer noch. Deswegen läuten auch gleich alle Alarmglocken, wenn seine Gefühle plötzlich ins Bewusstsein zu dringen drohen ... und die Schutzmauer verschliesst die kurzzeitig entstandene, undichte Stelle sogleich wieder, das geschieht unterbewusst und in Millisekunden. Der Intellekt kann aus alledem quasi ein stark verdünntes Destillat ziehen, vielleicht auch weil wir darüber gelesen und uns informiert haben, er kann dann theoretisch vieles einordnen ... aber eben, emotional erlebbar und spürbar wird es dadurch nicht, und die Folgen für Psyche und Körper bleiben bestehen.
Ich würde an deiner Stelle schauen, dass ich therapeutisch nicht einseitig auf analytischen und gesprächszentrierten Wegen bleibe. Die brauchst du vermutlich weiterhin auch, weil du dich dort einigermassen sicher fühlst. Ich würde mir zum erklärten Ziel setzen, endlich meine Gefühle aus ihrem Kellerloch zu holen, und dafür erstmal den verlorenen Schlüssel zu finden. Dass du Wut spüren kannst, Verzweiflung und Schmerz, dass vielleicht Tränen fliessen dürfen, all das wäre sehr heilsam. Und glaube jetzt nicht, mir gelänge das heute alles problemlos. Weinen kann ich z.B. bis heute nur in Ausnahmesituationen, da bin ich immer noch dran. Die frühen Verletzungen (ich würde wetten, um solche handelt es sich bei dir auch) werden nicht vollständig heilen, aber es ist möglich, sich endlich so um sie zu kümmern, wie es schon damals nötig gewesen wäre.
Ich glaube, sobald du ein wenig Zugang zu deinen Gefühlen spürst, wird dir das auch helfen, klarer zu sehen und klarer entscheiden zu können, wohin dein Weg dich führen soll, auch beruflich.
Zum Schluss vielleicht noch zwei Bücher, die mir selbst sehr geholfen haben in diesen Prozessen:
- Sei nicht so hart zu dir selbst, Andreas Knuf
- Posttraumatische Belastungsstörung, Pete Walker
Wobei, ein Buch ist nicht per se hilfreich, es ist auch wichtig, dass es zum richtigen Zeitpunkt zu einem kommt, wenn man dafür offen ist. Du kannst ja mal reinschauen. Und wenn du nicht viel Resonanz spürst, ist nichts an dir falsch deswegen! Vergiss nicht, people zu pleasen ist vermutlich eins deiner grössten Hindernisse. Nimm dir in dieser, aber nur in dieser!, Hinsicht den Trumpel jenseits des Atlantiks zum Vorbild: Flipp first!
Von Herzen alles Gute