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Cocooning - ziehe mich immer mehr zurück

Leonore
Guten Morgen Ihr alle.
Danke nochmal für Dasein und Eure Ohren und Eure Worte.
Louise: Schoki gabs heute Nacht schon, im Halbschlaf nach dem langen Heulen. Lindor Orange, der Treat für die ganz miesen Stunden.

Der Punkt ist, daß ich das lange lange Tief des Sitzens und Starrens im Herbst schon hatte. Ich habe gerade angefangen, aus dem Eimer zu krabbeln und über die Kante zu gucken, und jetzt scheine ich schon wieder abzustürzen, mit neuen Symptomen und mehr Angst.

Deswegen habe ich auch den Tagesklinikaufenthalt angeleiert, es scheint ja ohne einen größeren Aufwand nicht zu funktionieren. Allerdings weiß ich nicht, wie man so einen Kliniktag mit Gesprächen, Gruppensitzungen und Leuten um sich herum überstehen soll, wenn ich schon nach 2 Stunden gemütlichen Kaffeetrinkens mit einer Freundin völlig am Ende bin?
Gibt es dort wohl die Möglichkeit, sich irgendwohin zu verkrümeln und sich eine Decke über den Kopf zu ziehen?

-Anouk, diesen Gegner im Haushalt - die kenne ich auch. Allerdings habe ich gerade wegen einer Renovierung (auch das noch . . .) 3 Wochen lang in der Badewanne gespült (wenn ich es denn überhaupt geschafft habe), ich weiß momentan die Spülmaschine sehr zu schätzen.

Ich habe gleich einen Termin beim Neurologen, Arbeitsunfähigkeit verlängern lassen, Rezept und Klinikeinweisung abholen. Ich glaube, ich muß den Sinn der Venlafaxinbehandlung mal ansprechen, irgendwie kann es ohne auch nicht schlimmer sein (Stichwort brauche ich Nebenwirkung ohne Hauptwirkung?).

Ich bin wirklich wirklich dankbar, hier Verständnis im Sinne von Verstehen zu finden.
Mein Mann bemüht sich sehr, für mich da zu sein, aber er kann in gewissen Momenten nicht mit - ihr versteht, was ich meine? Er sitzt dann hilflos da und macht sich Sorgen, dadurch wird es nur schlimmer.

Ich muß da irgendwie durch. Irgendwie. So wie jetzt ist das kein Leben.

Danke.

10.04.2019 09:47 • #76


Leonore
Matt-ju:
Ich habe Gedanken zu Deinem Text, zu denen ich mich später äußern möchte. Jetzt ist gerade die Luft raus und ich muß zum Arzt.

10.04.2019 09:50 • x 1 #77


A


Hallo Leonore,

Cocooning - ziehe mich immer mehr zurück

x 3#3


E
Glaubt mir, es wird besser und irgendwann kommt auch die Kraft, ganz aktiv etwas zu tun.

Ich selbst weiß manchmal nicht, wo dieses Jahr meines Lebens geblieben ist, was habe ich getan?
Ich kenn das alles, das sich-wie-ein-Alien-fühlen, ich bin tagelang nicht aus dem Haus, hatte Schmerzen, Schwierigkeiten beim Gehen, ich glaube manchmal, meine Katze war mein Grund, nicht aufzugeben, aber allein, daß ich mir irgendwann erlaubte, mich gehen-zu-lassen war schon eine Erleichterung.

Es wird besser, bitte bewahrt euch einen Funken Hoffnung, der wieder ein Glühen werden kann

10.04.2019 09:55 • x 6 #78


Leonore
Hallo Ihr alle.

Ich kann wieder einigermaßen aus den Augen gucken, nicht zuletzt wegen Eurer Begleitung.
Letzte Nacht war das wirklich wichtig für mich.
Für die Neurologenbesuche muß ich in die Fußgängerzone der Innenstadt, aber ich habe einen Parkhausausgang direkt gegenüber dem Praxiseingang gefunden, so daß ich nach 3 Metern wieder von den vielen Menschen wegwimmeln kann.
-Jedenfalls schlägt er vor, in der Tagesklinik eine Blutentnahme machen zu lassen, um den Wirkstoffspiegel des Venlafaxins zu bestimmen, vielleicht würde ich es anders metabolisieren als zuvor und bräuchte noch mehr davon. Mal sehen. Ich warte das erst mal ab, auf die paar Tage kommt es jetzt auch nicht mehr an.
Heute hat mal wieder meine Sachbearbeiterin von der Krankenkasse angerufen, mittlerweile zum 3. Mal. Mein Wohl liege der Kasse am Herzen. Ja, bestimmt. Wenigstens gab es diesmal einen konkreten Plan vorzuweisen.

Matt.Ju: Ein paar Worte zu Deinem Zitat:
Zitat von Matt_iu:
Die Wahrheit ist, dass das Leben noch viel grausamer und schlimmer ist, als man sich generell vorstellt.

Zitat von Matt_iu:
Das reine Leben bedeutet »Leiden«, es ist mit »Böswilligen« Dingen gefüllt.


Ich sehe das ein bißchen anders.
Ich habe beruflich mit Tieren zu tun. Wie bei allen Dingen in der Natur macht es überhaupt keinen Sinn, moralische Maßstäbe bei der Betrachtung ihres Verhaltens anzulegen. Sie ( übrigens auch Hunde! Wird gerne vergessen.) sind nicht nachtragend, nicht hinterhältig, nicht bösartig, sondern sie verhalten sich wie sie müssen, wie Instinkte und Erlerntes es ihnen vorgeben.

Für mich ist die Welt und alles Leben darin nichts anderes als ein gigantisches Terrarium, und das Leben, daß wir verbringen, verläuft mal gut für uns, mal schlecht. Mal biste Baum, mal biste Hund.
Die Welt, das Terrarium, interessiert sich nicht für Einzelschicksale. Auch nicht für meins.
Nichts an der Natur und dem Kreislauf des Lebens geschieht für mich böswillig. Es passiert einfach, die guten wie die schlechten Sachen.

Manchmal zieht das Leben eine Karte mittig unten aus dem Kartenhaus. Dann hat man alle Hände voll zu tun, ein völliges Zusammenbrechen zu verhindern. Aber eine böse Absicht steckt nicht dahinter.
In meinem Leben sind schon viele gute, viele phantastische Sachen passiert, und die darf ich nicht aus dem Blick verlieren.
Auch, wenn wir Menschen heute sehr naturfremd leben, betrachte ich mich - wie alle anderen, wie jede Pflanze und jedes Tier - als kleines Ding, das leben darf, um wieder zu sterben. Dazwischen hat man seine Gene weitergegeben oder auch nicht. Punkt. Das finde ich nicht schlimm, sondern tröstlich. Ich will nichts Besonderes sein. Wer nichts Besonderes ist, braucht sich auch keine Gedanken um einen großen kosmischen Fallensteller zu machen.

So sehe ich das. Auch, wenn ich eine finstere und quälende Phase erleben muß - mein Leben bis jetzt war bestimmt nicht nur Leiden. Und ich hoffe inständig, daß das auch für die Zukunft gilt.

Danke.

10.04.2019 17:48 • x 4 #79


O
Wow, das klingt wirklich, wirklich schön!
Gefällt mir sehr!

10.04.2019 18:52 • x 1 #80


Matt_iu
Hallo Leonore,

Zitat:
[.] Nichts an der Natur und dem Kreislauf des Lebens geschieht für mich böswillig. Es passiert einfach, die guten wie die schlechten Sachen. [.] Aber eine böse Absicht steckt nicht dahinter.

[.] betrachte ich mich - wie alle anderen, wie jede Pflanze und jedes Tier - als kleines Ding, das Leben darf, um wieder zu sterben.

Das finde ich nicht schlimm, sondern tröstlich. Ich will nichts Besonderes sein. Wer nichts Besonderes ist, braucht sich auch keine Gedanken um einen großen kosmischen Fallensteller zu machen.

[.] mein Leben bis jetzt war bestimmt nicht nur Leiden. Und ich hoffe inständig, dass das auch für die Zukunft gilt.


danke für die Einsicht in deine Weltauffassung, die ich in Teilen selbst wahrnehme.

In den letzten Jahrhunderten geisteswissenschaftlicher Gebiete haben es die Denker erreicht, den Menschen zum Vernunftwesen über Alles zu idealisieren. Es wurde seither viel gestritten über Moral, Erkenntnisse und dergleichen. Protagoras hatte zwei Jahrtausende vorher folgenden Satz geäußert, der mir heute näher steht als jede Idealisierung der Vernunft: Der Mensch ist das Maß aller Dinge. Und insofern gebe ich dir Recht, die Kategorien der Ethik sind nur innerhalb unserer Spezies kommunizierbar; Gut und Böse, das sind Objekte menschlichen Denkens - der Mensch erschafft sie, in der Natur finde ich sie nicht. Nietzsche trieb es sogar noch weiter und schrieb im Buch Jenseits von Gut und Böse über den Anspruch einer Neubewertung dieser vom Menschen geschaffenen Werte.

Nun zurück zum Thema:
Wie es mit Zitaten (Ich meine den Aphorismus von gestern Nacht) an sich so ist, sind es im Grunde oft nur kluge Verallgemeinerungen der Welt oder eines Ausschnitts von ihr und die Botschaft, die ich dir vermitteln wollte, war weniger die Bewertung der Welt als Gut oder Böse, sondern dein Bewusstsein auf deine Stärke lenken, die du vor dem Hintergrund jedweder Weltvorstellung hast, die du in menschlichen Wertebegriffen - ob gut oder schlecht, einfach oder schwer - ausdrückst und fühlst. Anders gesagt: In meiner Auffassung und meinem Leidensweg hatte ich als junger Mann die Vorstellung, dass ich schwach bin und die Welt gar nicht so schwer war, als dass sie mir keine Probleme bereiten sollte. Mit den Jahren der Erfahrung und zuletzt seit Kurzem habe ich die feste Erkenntnis, dass die Welt noch viel komplexer und härter ist, als ich gedacht hatte, doch bin auch ich nicht so schwach, wie ich einst geglaubt hatte!

Täglich die Atemluft einzusaugen und auszuatmen bedeutet bereits eine Auflehnung, eine Revolte gegen jede Absurdität, die uns anheimfällt, die uns niederzureißen und zu beugen versucht. Und insofern sind wir sehr Stark.

10.04.2019 21:21 • x 1 #81


Anouk67
Hallo Leonore,

Ich hinterlasse einen ganz lieben Gruß und hoffe es geht Dir gut.

Anouk

16.04.2019 10:15 • x 1 #82


Leonore
Hallo zurück an Euch alle - Anouk, Danke für Deinen lieben Gruß.

Mir ging es ziemlich schlecht. Einfach, weil es mir schlecht ging, und weil ich die Akut-Tagesklinik vor der Brust und mit psychiatrischen Einrichtungen keinerlei Erfahrungen hatte.
Hatte. Dienstag war mein erster Tag, und dieser und der folgende waren so richtig für die Tonne. Am zweiten Tag kam ich Rotz und Wasser heulend dort an und habe im Dienstzimmer verlautbart, daß ich mich der Sache nicht gewachsen sehe. Ich wurde getröstet und (zum wiederholten Mal) darauf hingewiesen, daß ich nichts mitmachen müsse, daß ich mich zurückziehen dürfe und mich jederzeit wieder melden könne. Ich wurde immer wieder aus der (erstaunlich munteren) 14er-Truppe beiseite genommen und gefragt, wie es mir ginge.
Ich bin sehr angetan, es scheint dort aufrichtige Empathie zu geben, ich fühle mich aufgehoben.

Gestern, an meinem dritten Tag, bin ich . . . verändert durch den Tag gegangen. Mir ist klar: auch eine nette Station kann keine Wunder, aber ich reime mir das so zusammen: ich habe mich in einer sehr üblen Endlos-Abwärtsspirale befunden, aus Mißerfolg, Angst, Rückzug, Lethargie und Selbstverachtung. Die Erkenntnis, daß ich etwas zu ertragen doch noch in der Lage bin, daß ich immer noch ein paar Körnchen Kraft und Fähigkeiten habe, hat mich irgendwie aufgeweckt. Eigentlich fühle ich mich ein bißchen wie wachgeohrfeigt. Ich unterhalte mich mit Mitpatienten, kann in Gruppensitzungen einige Sätze sagen, einigermaßen Treppen steigen und sogar ein bißchen spazieren gehen. Die Entspannungsmodule sind toll. Die Stimmung ist ruhig und freundlich, das Team ist herzlich, auch die Therapeuten. Ich hebe beschlossen zu versuchen, dort in der Langzeit-Tagesklinik unterzukommen, aber man hat wie überall natürlich nicht unerhebliche Wartezeiten.

Es ist sehr schön, mal wieder einen Hauch nach vorn zu schauen, nicht nur auf die eigenen Fußspitzen.

Matt-iu: Danke für Deine Antwort, ich verstehe jetzt den Kern des Zitats oder was Du damit hast sagen wollen. Kraft ist das, woran es hapert, aber ich hoffe, wieder welche schöpfen zu können. Dafür mußte ich nur erst mal aus dem Bett aufstehen.

Ich melde mich wieder und erzähle, wollte nur ein kleines Lebenzeichen geben . . und Euch natürlich schöne Ostern wünschen.

Alles Liebe, Danke, S.

19.04.2019 11:23 • x 4 #83


Leonore
Ich bin übrigens wirklich entsetzt, wie weit ich mich in den letzten Wochen nochmal zusätzlich körperlich heruntergewirtschaftet habe. Ich muß in der TK Treppen steigen, und wenn ich zwischendurch dampfen möchte, muß ich logischerweise noch mehr Treppen steigen. Zwei Stockwerke, die ich bei jedem Erklimmen als vernichtend empfinde. Die gemächlichen Spaziergänge auf dem Klinikgelände gehen schon klar, aber heute war ich mit den Hunden unterwegs (die in den letzten Wochen überwiegend mein Mann übernommen hat, wie so Vieles), und das ging, naja, nicht wirklich gut.
Zu viele Tage im Bett.
Viel zu viel Starren an die Wand.
Noch mehr zu viel Schokolade als Seelentrost.
Da kommt einiges auf mich zu, zumal ich wieder auf die Nase falle, wenn ich mich überfordere, aber nicht ins Leben zurückfinde, wenn ich auf der Nase liegen bleibe.

Das gilt nicht nur für körperliche Schwächen. Ich glaube zum Beispiel, ich muß auch den Umgang mit Menschen wieder neu üben. Dafür gilt genau das gleiche - ich brauche dringend kleine Erfolgserlebnisse, aber der nächste Streßzusammenbruch in einem großen Laden kann mich auch wieder auf die Matte werfen.
Ihr versteht, was ich meine?

Es ist so armselig, einerseits.
Es ist so wunderbar, überhaupt wieder etwas versuchen zu wollen, andererseits.
Ich muß das im Moment für mich richtige Maß finden.
Selbstvertrauen finden in kleinen Erfolgen, ohne sie kleiner zu reden, als sie sind.

Und viele von Euch kennen bestimmt auch eine andere Grübelschleife, die wirklich nicht hilfreich ist:
Was ist das überhaupt für ein Leben in das ich zurückfinden will?
Kann ich wieder die sein, die ich war, und das tun, was früher ging? Will ich das überhaupt?
Die Zukunft ist echt ein Berg.

Viele Fragen und eine riesige Aufgabe. Aber zumindest für den Moment habe ich damit aufgehört, mich aufzugeben, denn wie Aufgeben hat sich das angefühlt.

Alles Liebe, meine Lieben, und danke fürs Zuhören. S.

19.04.2019 17:38 • x 3 #84


A


Hallo Leonore,

x 4#10


Alexandra2
Vergesslichkeit mit gestörter Aufmerksamkeit ist fies. Am Ende des Satzes habe ich den Anfang vergessen, genau wie Namen, Gesprächsinhalte, Zeit, Monat und überhaupt. Ich nehme es so hin, Auflehnung macht es noch schlechter.

19.04.2019 18:20 • x 1 #85

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