Liebe Rira
Danke für deine interessante Frage.
Mir ist es bis vor wenigen Jahren, also bis gegen 60, ähnlich ergangen mit Freundschaften, für die der Begriff Bekanntschaft zutreffender war. Ich hatte mich immer mal wieder gefragt, wieso keine einzige meiner zeitweiligen Freundschaften, z.B. aus der Gymnasial- und Unizeit oder der langen beruflichen Tätigkeit am gleichen Ort zwischen 35 und 55 Bestand hatte. Als nach 55 noch einmal eine grosse Krise ins Leben einbrach, mit Scheidung und Jobverlust, stand ich ohne einen einzigen Freund oder eine Freundin da. Mein soziales Netz war quasi auf meine beiden Kinder reduziert, die auch gerade erst erwachsen waren und die ich nicht für freundschaftliche Gespräche in meinem Zustand beanspruchen wollte und konnte.
Ich habe dann im Lauf der Therapie, die ich damals wieder anfing, mehr und mehr den Zusammenhang bemerkt, wie sehr die als Kind erfahrene Bezugs- und Bindungslosigkeit es mir verunmöglicht hatte, eine Fähigkeit zum Eingehen, Pflegen und Aufrechterhalten von Freundschaften zu entwickeln. Dem stand viel zu sehr die tief im Unterbewusstsein eingeprägte Überzeugung im Weg, dass ich schlicht und einfach zu uninteressant sei für andere und meine Bedürfnisse an eine Beziehung gar nichts wert waren.
Das muss bei dir jetzt nicht denselben Hintergrund haben, aber irgendeine Wurzel hat es sicher auch.
Aber du fragst eigentlich nur, wie ich Freundschaft definiere, im Gegensatz zu blosser Bekanntschaft. Ich würde es so umschreiben: Eine Beziehung, in der ich mich gesehen und verstanden fühle und in der das gegenseitig so ist, ein Geben und Nehmen. Eine Beziehung, in der ich mich wohl fühle, in der ich nicht Angst habe, so zu sein und mich zu zeigen, wie ich bin, und das auch tue. Eine Beziehung zudem, die lebt, das heisst in der man/frau sich regelmässig sieht, telefoniert und/oder schreibt, etwas zusammen unternimmt, ohne dass es zwanghaft ist, sondern eben weil es ein gegenseitiges Bedürfnis ist. Eine Beziehung, in der ich vielleicht auch mal längere Zeit nichts höre oder von mir hören lasse und trotzdem weiss, der Freund, die Freundin und die Verbundenheit ist da.
Etwa so.
Dass ich das jetzt so benennen kann, hat damit zu tun, dass mir das Leben tatsächlich in den letzten Jahren solche Beziehungen/Freundschaften geschenkt hat, wie ich sie nie real gekannt hatte vorher. Es ist kein grosser Freundeskreis, aber es sind doch etwa ein halbes Dutzend Menschen, die ich als solche Freunde und Freundinnen empfinde. Wenige, aber nahe Freundschaften, das entspricht mir und meinem Wesen auch mehr. Und im Rückblick zeigt sich, dass paradoxerweise die grosse Krise erst den Raum freigemacht hat dafür.
Ich hoffe, du kannst damit etwas anfangen.
Herzlichen Gruss an dich
11.10.2024 14:58 •
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