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Ist Genesung von Depression doch Willenssache?

Oli
Guten Tag!

Ich bin neu hier und möchte mich zunächst bedanken bei den vielen Teilnehmer*innen, die hier offen berichten.

Mich beschäftigt immer wieder das folgende Thema. Vielleicht ist ja auch der eine oder die andere darüber ins Grübeln gekommen:

*****
Gestern wieder einmal in einem Ratgeber gelesen, dass es bei einer Depression eines eisernen Willens bedarf, um sie loszuwerden: mal soll ich mich zwingen, dem schwarzen Hund davonzulaufen, dann soll ich mich überwinden, andere Menschen zu treffen und dann soll ich mir allabendlich einen Eintrag in mein Positivtagebuch abringen.

1. Ich komme mir dann immer so vor, als ob meine Depression im Grunde nur als ein etwas größerer innerer Schweinehund angesehen werden kann, den man mit ein wenig Mühe und Kraft besiegen könne. Meine Erfahrung ist leider, dass mein jahrzehntelanger eiserner Wille mich immer tiefer in den Schlamassel hat hineinrutschen lassen. Statt die Erfahrung zu machen, mittels eisernen Willens im Beruf Bestätigung zu erlangen oder etwa durch Sporttreiben fröhlicher zu werden, wurde der Kraftaufwand, den ich dafür benötigt habe, immer größer. Nun muss ich allerdings auch sagen, dass ich bislang - anders als in den Ratgebern stets angegeben - noch nie erlebt habe, dass meine Depression vorbei gegangen ist. Aufmunterungen zum Durchhalten, weil die Erkrankung auch wieder verschwinde, wirken dann auf mich auch eher kontraproduktiv.

2. Wenn in demselben Ratgeber steht, dass es wichtig sei zu lernen, MIT der Depression zu leben, dann widerspricht das in meiner Auffassung der Aufforderung, sie loszuwerden. Mir leuchten dann eher Ansätze ein, die davon ausgehen, dass die Depression für den Organismus einen ernst zu nehmenden Sinn habe. Darüber gibt es aber wenig Literatur, wie ich finde, und auch wenige Therapeut*innen, die so arbeiten. Das verunsichert mich.

(MIT einer Erkrankung zu leben, muss ich im Bereich der Pollenallergie seit Jahren lernen, zumindest meinte das die Allergologin, nachdem die Hyposensibilisierung ausgereizt war. Damit meinte die Allergologin nicht, dass ich meine ganze Kraft aufbringen, mich den Pollen aussetzen und dann halt einen Asthmaanfall riskieren solle. Unter "Mit der Erkrankung leben" verstand die Allergologin, bei besonders heftigem Pollenflug im Haus zu bleiben. Eine Birkenpollenallergie wird nicht weniger schlimm, wenn man sich nur lange genug in eine blühende Birke setzt. Im Gegenteil. Aus Heuschnupfen wird dann ganz gerne mal Asthma.
Wie ist das bei einer Depression? Besteht da nicht auch die Möglichkeit, dass sie immer größer wird, wenn man sie bekämpft? Mein depressiver Anteil ist ja nicht blöd. Der merkt sehr rasch, wenn ich ihn umarme mit dem Ziel, ihn zu erwürgen.)

3. Ich erlebe den Ausdruck "Antriebslosigkeit" als häufig insofern nicht zutreffend, als ich den Eindruck habe, dass mein Antrieb brüllend jenseits der Belastungsgrenze läuft, aber die Karre im Schlamm steckt. Und nach 20 Jahren ist jetzt der Motor ruiniert und ich bin keinen Zentimeter aus dem Dreck gekommen.

Trotzdem gibt es aber ja Menschen, die es schaffen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen; mit Plänen und Joggen und Positiv-Tagebuch und all den schönen Sachen, die die Therapeut*innen bereit halten. Wie machen die das?

Es grüßt Oli

08.01.2022 15:08 • x 4 #1


Jana7
Hallo Oli,

Du scheinst seit 20 Jahren Depressionen zu haben. Leider schreibst Du wenig Details dazu.
In diesen Jahren wird es doch Hochs und Tiefs gegeben haben.

Wenn Du schreibst, dass Dein Antrieb jenseits der Belastungsgrenze läuft, verstehe ich nicht, was Du meinst.
Du meinst vllt, dass Du keinen Antrieb hast und Dich 20 Jahre trotzdem gezwungen hast?
Und Du jetzt noch antriebsloser bist?

Diese Ratschläge aus dem Ratgeber kommen mir etwas abgedroschen vor.
Wenn man das liest und diese Tipps gut findet, fühlt man sich auf jeden Fall schon mal besser.
Wer heilt hat recht. Manche Menschen glauben an Ratgeber, Experten und diese Illusion vermag zu heilen.

Depressionen können viele Ursachen haben, auch mehrere gleichzeitig.
Allergiker leiden gehäuft unter Depressionen. Jede Krankheit ist eine Belastung. Doch darüber hinaus führen
Allergien zu Entzündungen im Körper. Es könnte auch zu Entzündungen im Gehirn führen.

Die üblichen Standardtestungen bei Allergologen decken längst nicht alle Stoffe ab.
Pollenallergien führen häufig zu Nahrungsmittelunverträglichkeiten mit Obst, Gemüse - das erklärt ganzjährige Probleme...
Insofern können Depressionen wirklich eine körperliche Ursache haben.
Bei manchen hilft Kortison gegen Depressionen. Sie fühlen sich besser. Ich glaube, der Beipackzettel erwähnt ein Risiko für Depressionen.
Ich bin gespannt, ob Pollenallergien unter eAutos abnehmen werden. Denn man reagiert auf die Kombination mit Schadstoffen. Sie verändern die Pollen in aggressiver Weise.

Die üblichen Antihistaminika führen häufig zu verstärkten Depressionen. Manche bekommen Suizidgedanken...

Manchen hilft eine Ernährungsumstellung. Ich erinnere mich an ein Video bei Youtube. Eine junge Frau benötigte schon als Jugendliche 2 künstliche Gelenke. Sie entscheidet sich für eine Carnivore - Diät. Nur Fleisch - Bio-Fleisch. Sie ist seitdem gesund, scheint in Vorträgen darüber aufzuklären. Ihr Vater ist in den USA bekannt. Sie überredet ihn, ihr zu folgen und er berichtet, seitdem morgens nicht mehr mit Ängsten aufzuwachen.
Beide verdienen nichts damit, über diese persönlichen Erfolge zu berichten.
Es ist eine sehr teure, unökologische Ernährungsweise...

Es ist ein weites Feld...

Leider erwähnst Du keine Medikamente. Es gibt sicherlich eine Reihe, die man ausprobieren könnte.
Man sollte da nicht vorschnell aufgeben, mehrere Ärzte aufsuchen. Es gibt wirklich viele Alternativen.
Auch off-label Medikamente...

08.01.2022 17:42 • x 2 #2


A


Hallo Oli,

Ist Genesung von Depression doch Willenssache?

x 3#3


Jana7
Hier ein Link zum Thema Allergien - Depressionen
Das Video ist interessant.
https://mcas-hope.de/blog/mastzellen-mc...-und-mcad/

08.01.2022 18:55 • x 1 #3


maya60
Hallo @Oli und nochmal Willkommen im Forum und ich wünsche dir hier eine gute Diskussion zu deiner so spannenden Grundfrage für alle, die länger an chronischen Depressionen leiden.

Wäre ich nicht dieser Tage zu schlapp dazu, hätte ich eine Menge an Erfahrungen dazu zu berichten. Und so geht es sicherlich so einigen hier im Forum, wenn es auch dauern mag, bis sie dazu antworten, denn das ist ja immer eine Sache der Kraft und des einigermaßen klaren Kopfes und der Konzentration und des innerlichen und zeitlichen Freiraums für´s Antworten. Wir alle im Selbsthilfeforum sind mehr oder weniger stark depressiv oder/und von weiteren psychischen Erkrankungen betroffen und haben bessere und schlappere Zeiten.
Winterzeit dümpelt oft und es treffen langsamer Antworten ein, aber deine Frage ist trotzdem sehr zentral und interessant für uns, schätze ich.

Manchmal klappt es trotzdem nur, im persönlichen Tagebuch hier einiges rauszulassen oder einfach eines der Spiele hier mitzuspielen oder zu den Momentaufnahmethemen kurz zu schreiben oder einfach nur Mitlesen oder kurze Fragen zu beantworten oder sich einfach nicht so isoliert zu fühlen und darum hier reinzuschauen ohne groß was zu schreiben . . . .

Kurz nur soviel aus meiner Erfahrung einer Betroffenen mit chronischer Depression:

Mit Willenskraft vorwärts und mitten durch den Problemkern wie in reinen Verhaltenstherapien hilft manchen durchaus bei depressiven Störungen, denn ein Großteil der von Depression Betroffenen hat nur ein- oder zweimal im Leben eine Depression, lernt therapeutisch vieles neu und besser und wird die Depression wieder los. Selbes lese ich auch oft über Angsterkrankungen wie Phobien.

Und auch bei meinen Depressionen gibt es Bereiche, die ich verhaltenstherapeutisch loswurde.

Bei chronischen wiederkehrenden Depressionen oder gar immer bleibenden Depressionen reicht und gelingt das allerdings nicht.

Da es unterschiedliche Depressionsursachen und Depressionsstärken gibt und begleitende oder in Wechselwirkung stehende weitere körperliche oder psychische Erkrankungen und oft auch gar nicht klar gesagt werden kann, was von was kommt, gibt es hier im Forum unterschiedlichste Erfahrungen und Ansichten zu deiner Kernfrage.

Denn auch wenn es manche Gemeinsamkeiten vieler Depressionen gibt, gibt es immer ganz subjektive und individuelle Depressionsbiografien. Und dann sind wir Betroffenen auch alle keine FachärztInnen oder FachtherapeutInnen und schon gar nicht durch reines Lesen und Schreiben hier in der Lage, Fachaussagen zu machen.

Aber der Austausch von Erfahrungen hilft schon sehr.

Naja, so kurz habe ich jetzt gar nicht geantwortet, für meine Verhältnisse als Vielschreiberin allerdings schon.

Wenn du hier in den verschiedensten Themen und Tagebüchern liest, wirst du schon unterschiedlichste Ansichten zum freien Willen und Depressionen erspüren können, einfach aus unterschiedlichsten und gleichen Erfahrungen damit.

Liebe Grüße! maya60

08.01.2022 19:07 • x 3 #4


111Sternchen222
Das ist kein etwas größerer Schweinehund....ich finde nur gerade kein so großes Tier in meinem Gehirn was die Depression auf den Punkt beschreibt.
Ich glaube was die Ratgeber gern sagen wollen ist, dass man TROTZ Depression versuchen muss eine gewisse Tagesstruktur aufzubauen. Keinen Stundenplan der Fenster putzen ,Essen kochen, Wäsche waschen, Freunde treffen, Staubsaugen enthält, sondern eher jeden Tag aufstehen, einen Kaffee trinken ein bisschen Bewegung und irgendwie was essen, vielleicht noch Duschen wenn sie Kraft reicht. Und wenn dann noch extra Kräfte übrig sind,schauen was man damit macht. Wenn nicht, ist auch in die Luft gucken ok. Es echt glaube ich darum sich nicht völlig der Depression hinzugeben und den ganzen Tag im Bett zu verbringen. Das allein erfordert schon eine Mordsanstrengung.
Zitat von Oli:
Sporttreiben fröhlicher zu werden,

Das sicherlich nicht, aber Sport beeinflusst den Hirnstoffwechsel positiv und baut z.b. cortisol ab.

Ich weiß natürlich nicht, was derjenige der den Ratgeber geschrieben hat im Kopf hatte, aber das ist meine Interpretation. Den unbedingten Willen gesund zu werden braucht man allerdings undda hilft dann auch manchmal ein Medikament, einfach damit man nicht mehr tief schwarz sieht ,sondern im grauen Nebel eine Chance für die Zukunft.
LG Sternchen

09.01.2022 09:44 • x 4 #5


Oli
Liebe Jana7, liebe*r 111Sternchen222, liebe Maya60,

ganz herzlichen Dank für Eure Antworten!

Nachdem hier ein paar Reaktionen auf meinen Beitrag eingetroffen sind, bekam ich irgendwie Muffensausen, ich würde es nicht schaffen, darauf zu antworten. Insofern hoffe ich, dass Ihr nicht enttäuscht seid, wenn es etwas dauert. Maya60 hat ja beruhigenderweise geschrieben, dass ich da in guter Gesellschaft bin.

Ich möchte also gerne noch auf Eure Hinweise und Hilfen eingehen. Das kann leider etwas dauern.

Vielleicht nur erstmal soviel: Ich finde es eine schwere Frage für mich, in welchen Bereichen es sich lohnt, meine Kraft einzusetzen, damit (vielleicht nach einigem Durchhalten) da auch Kraft wieder zurückkommt, und wo es sich nicht lohnt, Kraft reinzustecken, weil sie dort wie in einem schwarzen Loch auf Nimmerwiedersehen verschwindet.

Damit verbunden ist die Frage, wo ich mich in die Pflicht nehmen muss. Bei anderen Erkrankungen ist das halt einfacher. Beim grippalen Infekt sollte man sich halt zwingen, Tee zu trinken, auch wenn man das sonst nicht mag - darüber herrscht Einigkeit. Bei einer Depression bekommt man teilweise sehr widersprüchliche Tipps, ja Aufforderungen, was man machen kann, soll oder gar muss. Ich bin da mittlerweile leider unheimlich empfindlich, schnell niedergeschlagen, manchmal trotzig und bekomme viel zu schnell Bedenken, dass ich ganz alleine dafür verantwortlich bin, dass meine Genesung nicht voranschreitet.

Dann wiederum habe ich bei meinem Klinikaufenthalt versucht zu lernen, mir eben nicht auch noch Vorwürfe zu machen, wenn ich etwas nicht schaffe.

Interessanterweise sagte ein Therapeut dort auf die von mir geäußerten Bedenken, ich müsse mehr Diszplin aufbringen, um weniger im Bett zu liegen, dass er das nicht unbedingt so sehe. Seiner Ansicht nach würde jemand, der ständig depressiv im Bett liege, irgendwann von alleine auf die Idee kommen, wieder aufzustehen. Und in der Tat kenne ich auch eine Frau, die nach einem Jahr im Bett im dunklen Zimmer, ohne irgend eine Therapie wieder aufgestanden ist und am Leben teilgenommen hat.

Die Spannbreite dessen, was also als möglicher Weg der Besserung zur Verfügung steht, ist für mich unüberschaubar.

Vor lauter Verwirrung habe ich mir erstmal eine monsterhelle Tageslichtlampe gekauft …

Ich wünsche Euch einen guten Sonntag, und nochmal herzlichen Dank bis hierher!
LG
Oli

09.01.2022 11:40 • x 3 #6


M
Hi Oli,

spannende Frage, sowas geht mir auch manchmal durch den Kopf. ich glaube nicht, dass die Genesung Willenssache ist. Man manövriert sich während der Depression an einen Punkt, an dem man einfach nicht mehr richtig gedeiht. Genesung würde bedeuten, sein Leben nachhaltig zu verändern. Wir schrecken aber oft davor zurück große Änderungen in unserem Leben vorzunehmen und verharren stattdessen in unserem aktuellen Betriebsmodus. Willenskraft ist zwar schön und gut, wenn man aber nicht weiß in welche Richtung man losrennen soll, dann bringt sie auch nichts. Eine Therapie kann evtl. den Weg zu einem besseren Leben hin aufzeigen aber es ist ein langwieriger Prozess diesem Pfad zu folgen.

LG Michi

09.01.2022 14:31 • x 2 #7


Oli
Hallo Jana7!

Du hast mir sehr hilfsbereit geschrieben - herzlichen Dank dafür ! - und bedauert, dass ich nicht mehr von mir erzählt habe.

Ich bin ein etwas älteres Semester mit einer langen Geschichte, so dass ich manchmal nicht alle Aspekte, die vielleicht relevant wären, erwähne.

Ich habe seit 20 Jahren eine therapeutische Begleitung. Vor fünf Jahren bin ich dann doch mal zu einem Arzt, nachdem meine damalige Therapeutin das stets als wenig sinnvoll erachtet hatte. Als Diagnosen wurde eine Zwangsstörung, eine generalisierte Angststörung und eine Depression festgestellt. Ich habe das von einem anderen Psychiater nochmal einschätzen lassen, der zur gleichen Diagnose kam und seine Verwunderung äußerte, wie ich es denn überhaupt zu einem Beruf geschafft hätte und mein Leben einigermaßen auf die Reihe bekäme.
Wenn ich mir die Symptome betrachte auf Grund derer die Ärzte die Diagnosen gestellt haben, dann komme ich zur Einschätzung, dass ich bereits vor 35 Jahren eine Zwangsstörung hatte und eine Depression.
Der Therapeut, zu dem ich vor fünf Jahren gewechselt bin, hat mir zu verstehen gegeben, dass er nicht mit mir erfolgreich arbeiten könne, wenn ich nicht einen Klinikaufenthalt anvisiere. Da meine Tochter da gerade noch ein Säugling war, hat es gedauert, bis ich soweit war. Mehr aber noch standen mir meine Zwänge im Weg, da das Übernachten in einem fremden Bett für mich bis dato nicht zu bewältigen war.
In einer ersten Phase längerer Berufsunfähigkeit habe ich mir dann meine Zwänge vorgenommen und sie durch Konfrontation soweit wegdrücken können, dass ich mir vorstellen konnte, in einer Klinik zu übernachten und das Essen dort zu mir zu nehmen, ohne dass ich dafür sämtliche Energie gebraucht hätte, die ich ja eigentlich zur Bearbeitung meiner Depression aufwenden wollte.

Nachdem die Zwänge weniger geworden waren, hatte ich den Eindruck, dass meine diffusen Ängste mich ungehindert bombardieren konnten. Da ich ja nicht wusste, wovor ich eigentlich so lähmende Angst hatte, war die Methode der Konfrontation für mich erstmal nicht mehr plausibel bzw ich wusste schlicht nicht, wie das hätte praktisch aussehen können, mich zu konfrontieren. Die Frage war aber zu dem Zeitpunkt allerdings nicht mehr erheblich, weil mein gesundheitlicher Zustand im freien Fall war. In den Wochen kurz vor dem Klinikaufenthalt konnte ich nicht mehr wirklich für mich sorgen. Ich habe versucht mich darauf zu konzentrieren, wie ich die nächste Stunde überstehe. Zeitweise habe ich von Minute zu Minute gelebt und rumgesessen wie in einem schlechten Psychiatrie-Spielfilm.

Zu Deiner Frage, liebe Jana7, dass es bei mir vermutlich wechselnde Phasen in der Stimmung gab, kann ich grob sagen, dass ich mich daran nicht erinnern kann. Ich habe im Rückblick eher den Eindruck, dass ich seit 30 Jahren im selben Angstzustand bin, der mich aber immer mehr Kraft kostet, um dennoch die normalen Anforderungen des Lebens zu stemmen. Ich kann mich nicht an einen Tag in den vergangenen 35 Jahren erinnern, an dem ich mal jenes Angstgefühl los war, das ich mal so beschreiben will, dass sich mein Körper in einem Alarmzustand befindet, so als ob es Sonntagabend wäre, alle Freunde am Montag in den Urlaub führen, nur man selbst zu einer alles entscheidenden Abschlussklausur gehen muss.
Dieser Zustand wechselte in der vergangenen Zeit nur eben insofern, als dass ich immer schlechter damit zurechtkam, immer längere Pausen brauchte und immer weniger arbeiten konnte.
Irgendwann war dann ein Kipppunkt erreicht. Dann ging nichts mehr.

Was Medikamente anbelangt, habe ich mit Escitalopram begonnen, bin dann zu Fluoxetin gewechselt, das höher dosiert werden durfte. Nach meinem Klinikaufenthalt bin ich zu einem anderen Psychiater, der mit mir Sertralin im Off-Label-Bereich ausprobiert hat. Neuroleptika - Quietiapin und Aripiprazol - habe ich wegen Nebenwirkungen wieder absetzen müssen.

Zu Deinen Hinweisen zu Allergien und Ernährung kann ich sagen, dass ich überrascht bin, wie wenig ich bisher darauf gestoßen bin. Auch bei meinem Aufenthalt in der Klinik war das Thema Ernährung nicht präsent.

Bei all den unterschiedlichen Versuchen und Möglichkeiten muss ich natürlich immer abwägen, ob die Kraft da ist, sich etwas Neuem zuzuwenden und was ich damit evt auch aufs Spiel setze. Damit wäre ich wieder beim Ausgangspunkt der kleinen Reise angekommen., nämlich meiner Unsicherheit / Verzweiflung / Befürchtung zu wenig zu tun, um aus dem Schlamassel herauszukommen.

Die Klinik, in der ich drei Monate war, hat hypnosystemisch gearbeitet. Das war insofern erst einmal eine Befreiung, als dort alle Anteile von mir, die ich gerne los geworden wäre, als sinnvolle Teile von mir angesehen wurden, denen Aufmerksam geschenkt wurde. Das war so ungefähr das genaue Gegenteil davon, dass ich bislang mit Kraft gegen Angst und Depression gearbeitet habe, um ein Leben mit jenen Anforderungen zu führen, die an einen Erwachsenen eben gestellt werden.

Dass mein Körper gute Gründe hat, sich so zu verhalten, wie er es eben macht, war leicht einzusehen, aber in der Tragweite schwer zu erfassen.
Denn im Leben außerhalb der Klinik ist man ja im Grunde ständig in Situationen, in denen man zwar als Kollege, Freund, Ehemann und in anderen Rollen mit den entsprechenden Eigenschaften gern gesehen ist, wenn nur diese depressiven und zwanghaften Anteile nicht da wären. Letztlich bricht sich dieser Wunsch oder eben diese Erwartung immer wieder Bahn, dass man so bleibt, wie man ist, nur halt ohne diese dunklen Anteile.

Die Fortschritte, die ich in der Klinik gemacht habe, waren erfreulich. Gleichzeitig waren sie, gemessen an dem, was ein durchschnittlicher Alltag erfordert, unmerklich klein. Wenn ich mit dem Tempo weitermache, dann werde ich ungefähr in 274 Jahren soweit sein, dass ich ein einigermaßen durchschnittliches Leben führen kann - doofe Perspektive, wenn man nicht an Wiedergeburt glaubt. Und auch die Haltung, dass das Glas 1/128 voll ist und nicht 127/128 leer, ist auf die Dauer für mich schwer durchzuhalten.

Um zum Abschluss zum Thema zurückzukommen, also nochmal eine kleine Quintessenz:
Ich versuche, alle Anteile von mir wertzuschätzen, auch jene, die als depressiv und krankhaft ängstlich bezeichnet werden. Mit dieser Haltung kann ich anderen und mir selbst gut begegnen, wenn ich mal wieder den Eindruck habe, mir wird unterstellt, halt nicht genug zu wollen.
Gleichzeitig ist da der andere Pol. Eben jene Haltung in mir, die mich antreibt, weil sie sagt, dass sich nur mit Anstrengung etwas verändern wird. Manchmal sind beide Haltungen unvereinbar.

So, jetzt habe ich wenigstens Jana7 geantwortet. Ich hoffe, Maya60, 111Sternchen222 und Michi, ich kann auch bald Euch schreiben.

Viele Grüße
Oli

09.01.2022 21:53 • x 4 #8


Stromboli
Lieber Oli

Ich konnte jetzt nicht alle Antworten durchlesen, möchte dir aber kurz meine persönliche Antwort aus jahrzehntelanger Erfahrung mit Depressionen und Ängsten mitteilen. Der Rat mit dem eisernen Willen war und ist BEI MIR so ziemlich der kontraproduktivste. Einen solchen Willen habe ich und schätze ihn heute durchaus, aber als Instrument gegen die Depression taugte er nie, und wenn Leute mir sowas sagen, weiss ich heute, dass sie mir nicht gut tun, und gehe ihnen aus dem Weg. Mir haben Wege wie Selbstmitgefühl oder Verbindung mit inneren Schutz- und Helferwesen wirklich geholfen.

Das ist aber, wie erwähnt, MEINE Erfahrung und auch die erhebt natürlich keinen Anspruch, für alle zu gelten.

Liebe Grüsse, Stromboli

10.01.2022 07:13 • x 5 #9


hlena
Das kann ich nur bestätigen.
Mir hat der gute Wille auch nie geholfen und wenn du beobachtet,daß es dir trotz aller Anstrengung nicht hilft,zieht es dich noch mehr runter.

10.01.2022 10:07 • x 2 #10


A
Hallo Olli,

ich sehe mich in deiner Geschichte teilweise wieder. Das Bekämpfen der Depression, erzeugt Widerstand und Widerstand treibt dich noch mehr in sie hinein.

Ich habe in meiner schlimmsten Phase nur noch im Bett gelegen, die Tipps, sich aufzuraffen brachten mir nichts, weil ich nicht wollte, dass es mir besser ging. Der Verstand hatte sich so gegen mich gestellt und die Schwere der Gedanken, Ängste u.s.w. hatte alles Andere überschattet.

Als ich nicht mehr dagegen ankämpfen konnte, habe ich aufgegeben. Alles aufgegeben, alle Pläne, Ziele u.s.w.
Ich lief also nicht vom Schmerz weg, sondern auf ihn zu, denn ich konnte dagegen nicht mehr ankämpfen. Das war für mich eine sehr schmerzhafte Erfahrung. Und erst als ich alles hingeschmissen hab und meiner Depression sagte, Mach doch mit mir was du willst, war die Fassade gebrochen und ich fing an zu erkennen, was Fassade und was Realität ist und diese immer wieder voneinander zu trennen. Das half mir die Kontrolle nach und nach wiederzuerlangen.

Ich muss dazu sagen, sich das bei mir durch einen Burnout entwickelt hat, der sich seit etwa 2 Jahren aufgebaut hatte, und daher kam, dass ich eine Rolle einnahm im Job, gegen meine Werte so lange gearbeitet habe, bis ich mich selbst nicht wiedererkannte und nicht wusste, wer ich war. Deshalb fühlte sich die Depression auch als ein Teil von mir an, was sie aber nicht war. Für mich war das die größte Erkenntnis.

Lass mich gerne wissen, ob du das als sinnvoll siehst.

Gruß
Andre

13.01.2022 23:22 • x 5 #11


Oli
Hallo, André,

vielen Dank für Deine Antwort!

Ja, ich kann mit Deiner Antwort etwas anfangen und versuche natürlich immer, andere Aspekte zum Justieren des eigenen Weges einzubeziehen. Ich habe in der Therapie angefangen, die Depression als sinnvolle Reaktion meines Körpers zu begreifen, die eine Antwort auf Versuche einer Seite in mir darstellt, mich vor etwas zu schützen. Insofern passt das zu dem, was Du darüber schreibst, dass Du seinerzeit keine Besserung wolltest. Ich knacke noch etwas an dem, was Du als Fassade beschreibst und dass die Depression kein Teil von Dir sei. Mal sehen, wie ich diesen Gedanken bei mir einbauen kann.

Pläne aufzugeben, wie Du es beschreibst, ist etwas, das ich auch versuche. Gleichzeitig birgt es bei mir die Gefahr, mich damit sozial zu isolieren, weil natürlich dann auch Kontakte abreißen. Manchmal denke ich, dass aber vielleicht gerade das auch ein Weg wäre, weil ja die Rollen, die wir in den sozialen Beziehungen einnehmen, uns auch in bestimmten Verhaltensweisen festhalten. Ich frage mich in meinem Fall, ob das aber nicht auch gefährlich sein kann, weil meine Depression eine ist, die ich seit meiner Jugend habe - zumindest sehe ich das im Moment so. Daher wäre das Aufgeben aller Pläne das Entfernen von 35 Jahren meines Lebens, weil ich keinen Zeitpunkt meines Lebens kenne, zu dem ich emotional zurück will. Da steht alles zur Disposition. Das ist irgendwie eine gruselige Vorstellung. Es zu durchdenken, wäre aber sicher lohnenswert.

Nochmal herzlichen Dank für Deine Zeilen und viele Grüße
Oli

16.01.2022 09:26 • x 2 #12


Oli
Zitat von Michi87:
Hi Oli, spannende Frage, sowas geht mir auch manchmal durch den Kopf. ich glaube nicht, dass die Genesung Willenssache ist. Man manövriert sich während der Depression an einen Punkt, an dem man einfach nicht mehr richtig gedeiht. Genesung würde bedeuten, sein Leben nachhaltig zu verändern. Wir schrecken aber oft ...


Hallo Michi,

das Wort Betriebsmodus gefällt mir. Meist wird an dieser Stelle das Wort Komfortzone verwendet. Klar, als Fachbegriff der Profis vielleicht sinnvoll. Aber mir wird bei dem Wort immer etwas flau, weil ich mich reflexartig frage, wo da der Komfort ist, wenn man ihn beim Im-Bett-festgetackert-Sein nicht spürt und ich dann sofort ein schlechtes Gewissen bekomme.

Ähnlich geht es mir ja mit dem Wort Antriebslosigkeit. Der Begriff, der sich dahinter verbirgt, ist klar. Aber auch hier passiert etwas Ähnliches bei mir wie oben, dass ich in die Situation komme, mich rechtfertigen zu wollen. Der Antrieb bei mir läuft auf Hochtouren, aber da ist keine Traktion. Die Karre steckt im Schlamm oder steht auf einer Eisfläche. Antriebslos fühle ich mich, wenn ich keinen Bock auf was habe und dann halt den Motor ausstelle.

@maya60 hat das ja in einem Thread beschrieben, dass das eben genau der Depressionstest ist: wenn man ein Vorhaben, zu dem man sich nicht durchringen kann, dann doch in die Tat umsetzt, weil man sich für danach eine Belohnung auslobt, dann ist das keine Depression.

Wenn es um Veränderungen im Leben geht, von denen Du sprichst, dann frage ich mich manchmal, ob ich halt einfach nur falsche Vorstellungen vom Leben habe. Dann kommen diese ganzen Sprüche an den Start, von wegen Ponyhof und ‚andere kriegen das ja auch hin’ usw

Schönen Sonntag und Grüße
Oli

16.01.2022 09:57 • x 3 #13


Oli
Zitat von Stromboli:
Lieber Oli Ich konnte jetzt nicht alle Antworten durchlesen, möchte dir aber kurz meine persönliche Antwort aus jahrzehntelanger Erfahrung mit Depressionen und Ängsten mitteilen. Der Rat mit dem eisernen Willen war und ist BEI MIR so ziemlich der kontraproduktivste. Einen solchen Willen habe ich und schätze ihn ...


Hallo @Stromboli,

Schutz- und Helferwesen: das hört sich interessant an. Ich habe das mal kurz in einigen Übungen für Panikattacken kennen gelernt. Darf ich fragen, wie Du diese Wesen schaffst?

Viele Grüße
Oli

(Kennst Du die Band "Die Strombolis"?)

16.01.2022 10:04 • x 3 #14


A
Hallo Oli,

das was ich als Fassade beschrieben habe, damit ist folgendes gemeint:
Wie du schon sagtest, nehmen wir in unserem Umfeld, mit Freunden, auf der Arbeit, im Alltag bestimmte Rollen ein. und wenn diese Rollen, nicht im Einklang sind mit dem, was unseren Werten entspricht und wir Dinge im Äußeren hinnehmen, im Inneren aber einen heftigen Widerstand leisten, entstehen negative Gedankenspiralen, Gefühle, Emotionen.
Wenn man das nur lange genug betreibt, fängt man an an den negativen Mustern festzuhalten und sich mit ihnen zu identifizieren, so dass man unbewusst oder bewusst, gar nicht wirklich herauskommen möchte und erschafft sich somit inneren mentalen Schmerz.

Ich kann bei 35 Jahren gar nicht mitreden, sollte es mir also nicht anmaßen dürfen irgendwelche Ratschläge zu geben... aber ich bin von einem der glücklichsten Menschen überhaupt, bei dem alles irgendwie lief, durch Burnout in die tiefste Depression gerutscht. Alles in dem ich meine eigenen Werte nicht respektiert habe, äußere Konflikte nach innen aufgenommen habe und diese so lange wie möglich unterdrückt. Um nicht die eigene Angeschlagenheit nach Außen zu zeigen, musste ich mir eine Maske aufsetzen, lächeln in Situationen wo ich am liebsten schreien wollte und mich irgendwie verstellen. Mit geballter Kraft habe ich versucht dagegen anzukämpfen, bis ich nur noch im Bett lag und nicht mehr raus kam. Komplett isoliert von Außenwelt Irgendwann wurde ich von der Schwere der Gedanken und Ängste regelrecht erdrückt, bis ich nicht mehr ankämpfen konnte. Dann hob ich die Arme und sagte gedanklich meinem Verstand (meiner Depression): Du hast gewonnen, ich kann nicht mehr kämpfen.
An diesem Punkt bekam, die Fassade, was nicht mein echtes ich war einen Riss und ich fing an das negative Selbstbild (Fassade) und mein echtes Ich voneinander zu trennen.

Mit Aufgeben ist also der innere Kampf gemeint in erster Linie, nicht die äußeren Veränderungen. Denn das Aufgeben, wovor wir uns alle so fürchten und was wirklich einem die größte Angst macht, ist das, wonach der Körper und Geist schreit.
Negative Gedankenmuster zu erkennen und dir bewusst zu machen, kann auch sehr gut helfen, diese Spiralen zu durchbrechen.

Ich hoffe, ich konnte etwas Sinnvolles beitragen. Lasse mich aber auch gerne von anderen Erfahrungen und Meinungen überzeugen.

Grüße
Andre

17.01.2022 08:21 • x 5 #15


M
Zitat:
Wenn in demselben Ratgeber steht, dass es wichtig sei zu lernen, MIT der Depression zu leben, dann widerspricht das in meiner Auffassung der Aufforderung, sie loszuwerden.


Ich weiß, sowas scheint verwirrend. Aber ich kann dir aus meiner Erfahrung (4 mittelschwere bis schwere Episoden gehabt) sagen: Das was du unter Punkt 1 beschreibst, halte ich für ein Ankämpfen gegen sich selbst. Man denkt, man kämpfe gegen die Depression an, indem man dies und jenes ausprobiert. Das Problem dabei ist aber, dass damit eine Erwartungshaltung einhergeht – "Jetzt hab ich doch X, Y und dann auch noch Z gemacht. Jetzt muss die sch*** Depression doch endlich verschwinden". Man kämpft damit eigentlich gegen sich selbst an, weil die Depression ein Teil von einem ist.

Bei mir kam zuletzt irgendwann ein Tag, an dem ich merkte: Nichts hilft. Ich habe dann so eine Art Trotzhaltung eingenommen und gesagt: "Also, kann man nichts machen, ist jetzt halt so. Ist mir doch grad zu blöd, jetzt noch weiter rum zu probieren. Dann bin ich eben depressiv."

Ich weiß nicht, mein Text erklärt es jetzt vielleicht auch nicht besser, als so ein Ratgeber, aber ich versichere dir: Dieser Nihilismus war der Anfang vom Ende dieser Episode. Ich schreibe das hier natürlich auch mit dem Hintergedanke, es mal zu lesen, wenn es mir wieder dreckig geht.

Ich glaube der Knackpunkt ist, sein Unterbewusstsein zu überlisten. Es fiel bei mir in diesen Zeitraum, dass ich die ABC-Methode (einfach googeln) kennen lernte. Ich finde, die sollte jeder depressive zumindest kennen.

17.01.2022 15:47 • x 2 #16


A
@Michael808 Genaus dieses Aufgeben hat bei mir auch geholfen. Ich war sehr am verzweifeln und habe lange gebraucht, vom Kämpfer-Modus in den Ist halt so- Modus zu gehen. Die Angst davor war riesen groß, denn für mich bedeutete es mich aufzugeben. Aber dann merkte ich dadurch, dass alles was ich aufgab, nicht echt war und dass ich dadurch die Kontrolle über mich selbst und über meine Gedanken Schritt für Schritt wieder erlangte.

War dann die depressive Phase bei dir direkt vorüber, oder war das eine Phase?

17.01.2022 16:12 • x 2 #17


M
Zitat von An_dre:
@Michael808 Genaus dieses Aufgeben hat bei mir auch geholfen. Ich war sehr am verzweifeln und habe lange gebraucht, vom Kämpfer-Modus in den Ist halt so- Modus zu gehen. Die Angst davor war riesen groß, denn für mich bedeutete es mich aufzugeben. Aber dann merkte ich dadurch, dass alles was ich aufgab, ...


Gut ausgedrückt! Freut mich, dass du das bestätigen kannst.

Der zeitliche Verlauf war bei mir zuletzt so, dass ich nach ca. 9 Monaten Depression von der ABC-Methode erfahren habe. Ich habe dann soz. geprobt, dies auf meinen Verstand anzuwenden. Das hat nicht sofort zum Erfolg geführt, aber ich fing an daran zu glauben. Etwa eine Woche später kam mir dann die Einstellung Ist halt jetzt so. Ich gab mir kleine Aufgaben und nahm mir vor, deren Erfolg nach der ABC-Methode zu bewerten. Dazu gehörte z.B., mehrere Rasenflächen zu mähen. Während ich das tat, kamen mir positive Erinnerungen an meine Jugend.

Und dann wusste ich nicht, wie mir geschah. Es ist schwer in Worte zu fassen. Während ich da so mähte, dachte ich plötzlich: Hä? Irgendwas ist jetzt plötzlich anders in meinem Kopf. Ich traute dem Braten noch nicht, aber ahnte irgendwie schon, dass es vorbei sein würde. Aber weil ich so skeptisch war, schwang noch der Gedanke mit, dass es schon morgen wieder so weitergehen würde, wie zuvor. Aber tatsächlich, es war vorbei. Der Schlaf war noch lange gestört, was aber nur eine Folge meines Mirtazapin-Konsums war (soweit war ich damals glücklicherweise schon informiert).

Aber tatsächlich: Es war definitiv vorbei. Ich merkte das am folgenden Tag nochmal deutlich daran, dass ich plötzlich bei der Arbeit einen so unglaublichen Frieden empfand. Ich hatte da viele A******cher um mich rum. Und ich erinnere mich noch genau an die Situation, wie ich da im Großraumbüro saß und diese Kollegen anschaute und wie ich dabei nicht den geringsten Groll verspürte. Es war unglaublich!

18.01.2022 09:39 • #18


Oli
Danke, @An_dre , für die Erläuterung!

Ich kann damit viel anfangen, was Du schreibst, und finde mich darin wieder. Selbst, wenn es nicht so wäre, würde ich mir nicht anmaßen, Dich von etwas anderem überzeugen zu wollen. Das ist ja genau das, was ich bei meinem Therapeuten so merkwürdig fand, als dieser im Gespräch immer wieder meine Äußerungen gewertet hat nach dem Motto: "Jetzt haben sie es richtig verstanden, wie es sich verhält".

Mein Einwand, wenn ich ihn überhaupt so nennen will, ist jener, dass ich bei mir nicht weiß, was ich von all dem, was Du als Fassade bezeichnest, über Bord werfen soll. Was bleibt mir dann noch? Was füllt dann die Lücke? Brauche ich nicht etwas Neues, das das Alte ersetzen kann, bevor ich es wegwerfe? Und was kann das sein?

Wenn ich mir ansehe, was bei mir alles Fassade sein könnte, dann bröselt mein Leben mir weg bis zum Alter von zwölf Jahren oder noch früher. Ich würde mal sagen: verflixt.

20.01.2022 00:07 • #19


Oli
Ich habe vor einigen Jahren, das mal in einem kleinen Bereich meines Lebens auszuprobieren, nämlich mit dem Weihnachtsfest. Ich war früher mega-engagiert, habe in zwei Gottesdiensten in mehreren Funktionen mitgewirkt usw.

Ich habe dann nach und nach alles weggelassen, von dem ich nicht wusste, warum ich das eigentlich tue. Da blieb zunächst nichts mehr übrig. Gar nichts. Da meine Frau Weihnachten nicht am 25,12, feiert, sondern im Januar, kam auch von ihr kein Wunsch, den 24.12. besonders zu gestalten.

Dieses Jahr hatten wir dann tatsächlich wieder einen Baum und ich war mit unserer Tochter in der Kirche - wobei ich sagen muss, dass mir die 20 Minuten gelangt haben, die wir wegen COVID nur im Gottesdienst waren. Aber immerhin habe ich bemerkt, dass mir das Schmücken des Baums in den vergangenen Jahren doch etwas gefehlt hat.

20.01.2022 21:19 • #20


A
@Oli Was ich als Fassade bezeichne, ist nicht an bestimmten Ereignissen festzumachen, sondern wie du mit Dingen umgehst. Dass du dein Leben nach deinen Werten lebst.
Als Beispiel: Wenn es dir wichtig ist, dass dich Leute respektieren, du aber immer nett und höflich bist, weil du niemandem auf die Füße treten willst, kann es passieren, dass die Leute deine Grenzen nicht beachten. Logisch wirst du das immer rechtfertigen können mit Derjenige hatte einen schlechten Tag, oder was auch immer
Aber wenn jemand immer und immer wieder deine Grenzen überschreitet (oder du selbst), dann trägt das zum Unmut bei und häuft sich.

Ich habe dieses Beispiel deshalb gewählt, weil mir genau das passiert ist. Bis vor 3 Jahren hatte ich mir nach und nach die Einstellung aufgebaut, immer den unbequemeren Weg zu wählen und mich unter keinen Umständen zu verbiegen und zu verstellen.

Dann aber habe ich für eine vielversprechende Karriere, all meine Prinzipien über Bord geworfen und habe all meine inneren Regeln missachtet, habe mir eine Maske (Fassade) aufgebaut und mich mit ihr identifiziert, das für mein richtiges selbst gehalten. Diese wurde dann so schwer und hat mich in meinen Burnout getrieben, dass sie irgendwann gebröckelt ist. Unter all dieser Fassade lebt ein ziemlich sorgloser lebensfroher Kerl. Mit der Karriere ging es auch den Bach runter, also hat wirklich niemand profitiert.

Jim Carrey hat das mal ganz gut ausgedrückt, ich weiß nicht ob es auf alle zutrifft, aber ich kann das zu 100% unterschreiben:
Depression ist die Reaktion deines Körpers in dem er sagt Fu**** You, diesen Charakter möchte ich nicht mehr spielen, ich möchte ich selbst sein.

21.01.2022 08:35 • x 3 #21


A
@Michael808 Das freut mich, dass du so deine Depression loswerden konntest. Es ist schon merkwürdig, irgendwie kontraintuitiv, dass der Verstand dir sagt, du musst immer nach vorne rennen, vor dem Monster weg, sonst kriegt es dich. Wenn du aber dem Monster in die Arme rennst, merkst du, dass es gar kein Monster gibt.

Ich kenne das Gefühl von unglaublich großen inneren Frieden. Damit kann dich nichts aus der Ruhe bringen und keine Herausforderung stresst dich. Genieß es.

Ich weiß nicht ob du das kennst oder nicht. Eckhart Tolle kann ich ans Herz legen, mal bei Youtube anzuschauen, oder zu lesen. Seine Philosophie ist: Wenn wir den jetzigen Moment so akzeptieren können wie er ist, ohne ihn zu verändern, oder mentalen Widerstand zu leisten, dann lebt sich unser Leben viel sorgloser.

21.01.2022 08:51 • x 2 #22


Oli
@An_dre
Zitat:


Der Psychiater, zudem ich gehe, versucht, bei der Suche nach der passenden Medikamentierung herauszufinden, ob die vermeintliche Nebenwirkung des Präparates tatsächlich unerwünscht ist oder eben ein freigelegter Teil meiner Selbst, der durch solch eine von Dir beschriebene Rolle verdeckt wurde.

Mein Beispiel mit dem Weihnachtsfest passt vielleicht doch zu dem, was Du beschreibst. Denn ein großer Teil dessen, was ich um dieses Fest herum alles gemacht habe, war ja die Erfüllung von Rollen, die ich vielleicht gar nicht mochte. Ich habe meinen Eltern, Lehrer_innen und Verwandten gefallen wollen und mich über deren Lob definiert. Was, so frage ich mich, ist aber davon meine Identität? Welche Teile des Festes entsprechen meinem eigenen Bedürfnis? Und besonders quälend ist die Frage für mich: Ist da überhaupt irgend eine eigene Identität, die ich freilegen kann. Das Experiment, so lange alles wegzulassen, bis mein Kern erscheint, habe ich erstmal nur mit diesem Fest durchgeführt. Meine Bedenken sind ja, dass, wenn ich das mit meiner gesamten Person auf einmal mache, nichts mehr von mir übrig bleibt.

21.01.2022 12:58 • #23


A
@Oli Okay, jetzt verstehe ich, was du meinst. Jetzt ergibt die Geschichte einen Sinn.
Wenn die Frage in dir aufkommt, was denn dann noch deine eigene Identität bleibt, dann ist die Last, die du dadurch mitträgst ja umso größer. Vielleicht kannst du damit anfangen Nein zu sagen, in Situationen in denen du versuchst Lob zu bekommen, und den Drang verspürst dich anzupassen. Ein starkes unkommentiertes Nein ist der erste Schritt zur Kontrolle über deine Gedanken/Gefühle/Emotionen.

Was die Medikamentierung angeht, habe ich keine Erfahrungen. Ich finde, ein guter Indikator ist, was deine Wiederkehrende Gedanken und Emotionen sind. Meditation hilft zum Beispiel auch ganz gut dafür. Wenn mich etwas nicht loslässt, ein Konflikt, eine Situation, dann merke ich das am Besten beim meditieren und wirkliche Erleichterung bekomme ich, wenn ich das kompromisslos genauso raushaue, wie es in meinem Kopf herumschwirrt. Je ungefilterter, unbedachter du Emotionen rauslassen kannst, umso weniger belastet es dich. Und in Folge dessen, hast du deine Emotionen besser unter Kontrolle, als wenn du alles in dich hineinfrisst.

21.01.2022 15:59 • #24


Tealight
Zitat von Oli:
Guten Tag! Ich bin neu hier und möchte mich zunächst bedanken bei den vielen Teilnehmer*innen, die hier offen berichten. Mich beschäftigt immer ...



Bevor ich auf deine eigentliche Frage eingehe...

Hast du vielleicht mal dran gedacht, eine Haar Analyse machen zu lassen?!
( über zb Amazon kannst du sie beziehen.)
Ich habe mir eine machen lassen, und kann sagen : sehr aufschlussreich.....

Lieben Gruß

21.01.2022 19:14 • x 1 #25


Oli
Haaranalyse sagt mir gar nicht. Ich werde mich mal schlau machen. Vielen Dank!

21.01.2022 19:42 • x 1 #26


Oli
@Uerdinger

15.10.2023 22:00 • x 1 #27


Dakota
Für mich persönlich ist Disziplin vor und nach der Depression tatsächlich ein wichtiger Faktor (Prävention und Nachsorge, wenn man so will). In der Depression bringt es mir nichts, da hat der Wille kaum Macht.

16.10.2023 09:49 • x 1 #28


A


Hallo Oli,

x 4#29


Dys
Zitat von Oli:
Trotzdem gibt es aber ja Menschen, die es schaffen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen; mit Plänen und Joggen und Positiv-Tagebuch und all den schönen Sachen, die die Therapeut*innen bereit halten. Wie machen die das?

Ja, die gibt es wohl. Doch das beweist erstmal nur, dass es diese Menschen gibt. Oder eher, dass diese sagen, sie hätten es geschafft und dann natürlich auch Beispiele nennen, wie sie es geschafft haben. Um darüber zu befinden zu können, ob das nun bei einem selbst so funktionieren könnte, fehlen aber mitunter einige wichtige Informationen über die Faktoren, die bei den Anderen gegeben waren. Denn Depression hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab und wie sie überwunden werden kann, oft noch von weiteren. Sich also die Frage stellen, weshalb derjenige es geschafft hat, man selbst aber irgendwie nicht, bringt insofern garnichts, weil man nicht derjenige ist, sondern man selbst.

Ich persönlich habe beispielsweise festgestellt, das es mich irgendwie frustriert, wenn ich beim Joggen reihenweise von anderen Joggern überholt werde. Diese Frustration ist dem überwinden meiner Depression aber nicht zuträglich. Klar, mit entsprechendem Trainieren würde ich irgendwann mithalten können oder sogar Andere überholen können und auch mal den befreienden Flow erleben. Soweit die Ratio, die aber eben in dem Moment der Frustration keine Rolle spielt, sondern nur das aktuelle Gefühl. Dieses Gefühl kommt aber ja nur auf, weil es eine Vergleichsmöglichkeit gibt. Vergleiche bringen aber tatsächlich nur etwas, wenn die Bedingungen die selben sind. Dies sind sie aber bei depressiven Menschen nicht und eigentlich bei gesunden auch nicht. Daher bleibt alles objektiv betrachtet nur unter den jeweiligen subjektiven Gesichtspunkten zu betrachten und entsprechend individuell zu bewerten. Um meine subjektiven Befindlichkeiten korrekt bewerten zu können, muss ich zunächst mal ehrlich zu mir selbst sein und tatsächlich erkennen, dass meine Depression nicht alleine der Grund für alles ist und auch dementsprechend nicht als Rechtfertigung für mein Verhalten dienen kann. Als Ausrede kann ich sie aber immer gut einsetzen, auch wenn ich tatsächlich nur mal mies drauf bin oder keine Lust auf etwas habe, oder schlichtweg zu faul bin, also könnte, aber nicht will. Nur wenn ich wirklich nicht mehr kann, dann weiß ich, dass die Depression wieder zuschlägt. Dann reicht der Wille bei mir nicht mehr aus, dann ist es auch sicher keine Willenssache. Auch wenn es bei vielem Anderen wohl eine Sache des Willens ist. Wäre es nur Willenssache, würden Medikamente alleine nichts bringen, was aber bei mir nicht der Fall ist. Bei Therapie sieht es teilweise anders aus, da muss zumindest der Wille da sein, mich darauf einlassen zu wollen, was manchmal auch weniger der Fall war, weil es mich mit unangenehmen aber wahren Dingen, mich selbst betreffend, konfrontiert hat, die auch frustriert haben und eine gewisse Trotzigkeit hervorgerufen hatten. Da war natürlich der Wille dahin. Schlimmer noch, die Depression als Argument zog da auch nicht mehr.

16.10.2023 10:26 • x 1 #29

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