Hallo Jana7!
Du hast mir sehr hilfsbereit geschrieben - herzlichen Dank dafür ! - und bedauert, dass ich nicht mehr von mir erzählt habe.
Ich bin ein etwas älteres Semester mit einer langen Geschichte, so dass ich manchmal nicht alle Aspekte, die vielleicht relevant wären, erwähne.
Ich habe seit 20 Jahren eine therapeutische Begleitung. Vor fünf Jahren bin ich dann doch mal zu einem Arzt, nachdem meine damalige Therapeutin das stets als wenig sinnvoll erachtet hatte. Als Diagnosen wurde eine Zwangsstörung, eine generalisierte Angststörung und eine Depression festgestellt. Ich habe das von einem anderen Psychiater nochmal einschätzen lassen, der zur gleichen Diagnose kam und seine Verwunderung äußerte, wie ich es denn überhaupt zu einem Beruf geschafft hätte und mein Leben einigermaßen auf die Reihe bekäme.
Wenn ich mir die Symptome betrachte auf Grund derer die Ärzte die Diagnosen gestellt haben, dann komme ich zur Einschätzung, dass ich bereits vor 35 Jahren eine Zwangsstörung hatte und eine Depression.
Der Therapeut, zu dem ich vor fünf Jahren gewechselt bin, hat mir zu verstehen gegeben, dass er nicht mit mir erfolgreich arbeiten könne, wenn ich nicht einen Klinikaufenthalt anvisiere. Da meine Tochter da gerade noch ein Säugling war, hat es gedauert, bis ich soweit war. Mehr aber noch standen mir meine Zwänge im Weg, da das Übernachten in einem fremden Bett für mich bis dato nicht zu bewältigen war.
In einer ersten Phase längerer Berufsunfähigkeit habe ich mir dann meine Zwänge vorgenommen und sie durch Konfrontation soweit wegdrücken können, dass ich mir vorstellen konnte, in einer Klinik zu übernachten und das Essen dort zu mir zu nehmen, ohne dass ich dafür sämtliche Energie gebraucht hätte, die ich ja eigentlich zur Bearbeitung meiner Depression aufwenden wollte.
Nachdem die Zwänge weniger geworden waren, hatte ich den Eindruck, dass meine diffusen Ängste mich ungehindert bombardieren konnten. Da ich ja nicht wusste, wovor ich eigentlich so lähmende Angst hatte, war die Methode der Konfrontation für mich erstmal nicht mehr plausibel bzw ich wusste schlicht nicht, wie das hätte praktisch aussehen können, mich zu konfrontieren. Die Frage war aber zu dem Zeitpunkt allerdings nicht mehr erheblich, weil mein gesundheitlicher Zustand im freien Fall war. In den Wochen kurz vor dem Klinikaufenthalt konnte ich nicht mehr wirklich für mich sorgen. Ich habe versucht mich darauf zu konzentrieren, wie ich die nächste Stunde überstehe. Zeitweise habe ich von Minute zu Minute gelebt und rumgesessen wie in einem schlechten Psychiatrie-Spielfilm.
Zu Deiner Frage, liebe Jana7, dass es bei mir vermutlich wechselnde Phasen in der Stimmung gab, kann ich grob sagen, dass ich mich daran nicht erinnern kann. Ich habe im Rückblick eher den Eindruck, dass ich seit 30 Jahren im selben Angstzustand bin, der mich aber immer mehr Kraft kostet, um dennoch die normalen Anforderungen des Lebens zu stemmen. Ich kann mich nicht an einen Tag in den vergangenen 35 Jahren erinnern, an dem ich mal jenes Angstgefühl los war, das ich mal so beschreiben will, dass sich mein Körper in einem Alarmzustand befindet, so als ob es Sonntagabend wäre, alle Freunde am Montag in den Urlaub führen, nur man selbst zu einer alles entscheidenden Abschlussklausur gehen muss.
Dieser Zustand wechselte in der vergangenen Zeit nur eben insofern, als dass ich immer schlechter damit zurechtkam, immer längere Pausen brauchte und immer weniger arbeiten konnte.
Irgendwann war dann ein Kipppunkt erreicht. Dann ging nichts mehr.
Was Medikamente anbelangt, habe ich mit Escitalopram begonnen, bin dann zu Fluoxetin gewechselt, das höher dosiert werden durfte. Nach meinem Klinikaufenthalt bin ich zu einem anderen Psychiater, der mit mir Sertralin im Off-Label-Bereich ausprobiert hat. Neuroleptika - Quietiapin und Aripiprazol - habe ich wegen Nebenwirkungen wieder absetzen müssen.
Zu Deinen Hinweisen zu Allergien und Ernährung kann ich sagen, dass ich überrascht bin, wie wenig ich bisher darauf gestoßen bin. Auch bei meinem Aufenthalt in der Klinik war das Thema Ernährung nicht präsent.
Bei all den unterschiedlichen Versuchen und Möglichkeiten muss ich natürlich immer abwägen, ob die Kraft da ist, sich etwas Neuem zuzuwenden und was ich damit evt auch aufs Spiel setze. Damit wäre ich wieder beim Ausgangspunkt der kleinen Reise angekommen., nämlich meiner Unsicherheit / Verzweiflung / Befürchtung zu wenig zu tun, um aus dem Schlamassel herauszukommen.
Die Klinik, in der ich drei Monate war, hat hypnosystemisch gearbeitet. Das war insofern erst einmal eine Befreiung, als dort alle Anteile von mir, die ich gerne los geworden wäre, als sinnvolle Teile von mir angesehen wurden, denen Aufmerksam geschenkt wurde. Das war so ungefähr das genaue Gegenteil davon, dass ich bislang mit Kraft gegen Angst und Depression gearbeitet habe, um ein Leben mit jenen Anforderungen zu führen, die an einen Erwachsenen eben gestellt werden.
Dass mein Körper gute Gründe hat, sich so zu verhalten, wie er es eben macht, war leicht einzusehen, aber in der Tragweite schwer zu erfassen.
Denn im Leben außerhalb der Klinik ist man ja im Grunde ständig in Situationen, in denen man zwar als Kollege, Freund, Ehemann und in anderen Rollen mit den entsprechenden Eigenschaften gern gesehen ist, wenn nur diese depressiven und zwanghaften Anteile nicht da wären. Letztlich bricht sich dieser Wunsch oder eben diese Erwartung immer wieder Bahn, dass man so bleibt, wie man ist, nur halt ohne diese dunklen Anteile.
Die Fortschritte, die ich in der Klinik gemacht habe, waren erfreulich. Gleichzeitig waren sie, gemessen an dem, was ein durchschnittlicher Alltag erfordert, unmerklich klein. Wenn ich mit dem Tempo weitermache, dann werde ich ungefähr in 274 Jahren soweit sein, dass ich ein einigermaßen durchschnittliches Leben führen kann - doofe Perspektive, wenn man nicht an Wiedergeburt glaubt. Und auch die Haltung, dass das Glas 1/128 voll ist und nicht 127/128 leer, ist auf die Dauer für mich schwer durchzuhalten.
Um zum Abschluss zum Thema zurückzukommen, also nochmal eine kleine Quintessenz:
Ich versuche, alle Anteile von mir wertzuschätzen, auch jene, die als depressiv und krankhaft ängstlich bezeichnet werden. Mit dieser Haltung kann ich anderen und mir selbst gut begegnen, wenn ich mal wieder den Eindruck habe, mir wird unterstellt, halt nicht genug zu wollen.
Gleichzeitig ist da der andere Pol. Eben jene Haltung in mir, die mich antreibt, weil sie sagt, dass sich nur mit Anstrengung etwas verändern wird. Manchmal sind beide Haltungen unvereinbar.
So, jetzt habe ich wenigstens Jana7 geantwortet. Ich hoffe, Maya60, 111Sternchen222 und Michi, ich kann auch bald Euch schreiben.
Viele Grüße
Oli
09.01.2022 21:53 •
x 4 #8