Nuala
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Demnach müsste ich eigentlich zu den alten, älteren gehören.
Als Kind dürften Leute meines Alters für mich uralt gewesen sein.
Und selbst als Studentin dürfte ich das so empfunden haben.
Manchmal denke ich an die Eltern einer Schulfreundin Sonja. Wir waren auch noch im Studium in Kontakt.
Ich erinnere mich, wie wir mit ihrer eher konservativen (Vater Professor) Familie am Tisch saßen.
Sie luden mich manchmal zum Essen ein. Insbesondere am an Weihnachten - immerhin am 2. Weihnachtstag - fand ich das wirklich nett.
Es kommt mir vor wie gestern. Ihre Eltern dürften damals auch Mitte 50 gewesen sein.
Und jetzt bin ich so alt wie die damals waren. Aber ich bin doch immer noch dieselbe wie damals Mitte/Ende 20.
Der Kontakt ist verloren gegangen. Die Eltern bauten weiter weg in Köln ein neues Haus.
Meine Freundin studierte Medizin, dann Zahnmedizin in einer anderen Stadt. Kam aber häufiger nach Hause.
Sonja hatte einen Freund namens Tim, der damals wohl schon fertiger Arzt war und im angrenzenden Ausland arbeitete.
Später saß dann auch noch die Freundin des Bruders meiner Freundin mit am Tisch.
Gerne erinnere ich mich daran zurück. Es war auch eine Art Familienersatz.
Und ich bewunderte die gehobenen, perfekten, harmonischen Verhältnisse.
Alle schlank, beide Kids studieren und erwarben später - wie erwartet - Doktortitel.
Vor dem Vater hatte ich etwas Angst.
Ich glaube, zu Schulzeiten war ich schon dort gewesen. Natürlich wurde ich etwas ausgefragt und konnte dem nicht wirklich gewachsen sein.
Ich wollte schon gar nicht mehr kommen. Ich glaube, Sonja hat hinter meinem Rücken eingegriffen.
Obwohl sich wohl jeder Mensch gefragt hätte, warum ich endlos studiere - nie wurde ich darauf angesprochen.
Sie erzählte mir mal, der Vater würde darauf bestehen, dass am Wochenende alle um 10 Uhr fertig angezogen am Frühstückstisch sitzen.
Ein Mal diskutierten wir ein politisches Thema. Die Familie waren CDU Wähler. Er beendete das Gespräch mit dem Satz.
Meine Ansicht habe Stammtisch-Niveau.
Sonja erzählte häufiger lachend, ihr Vater würde an der Uni jedes Jahr die Saure Zitrone für Unbeliebtheit bekommen.
Sein Büro sei wirklich sehr klein und sie habe sich früher geschämt, weil der Vater damals nur einen Peugeot gefahren sei.
Auch für ihre Mutter (studierte Hausfrau) würde sie sich manchmal schämen, weil sie zuhause in altmodischer Kleidung herumlaufe und wie eine Putzfrau aussähe. Sie hatten natürlich jemanden, der beim Putzen half.
Sie könne nicht mal Autofahren. Sie sei ausgerechnet in ein Polizeiauto gefahren und habe die Hoffnung auf den Führerschein aufgegeben.
Ich mochte Sonja irgendwie. Wie hatte sie nach der Schule nur noch die Energie für Violin- und Klavierstunden. Und noch Ballett?
Ich bewundere sie. Ich wäre gerne so wie sie.
Meine Freundin Sonja ist mit ihrem Freund anscheinend nicht mehr zusammen.
Sie wollte wohl nie reine Hausfrau sein. Ob sie Kinder mag oder wollte, weiß ich nicht.
Ich google sie zeitweise. Es gibt ein paar Fotos und ich speichere sie. In Norddeutschland - weit weg - arbeitet sie zur Zeit.
Als Kieferorthopädin in einer Klinik.
Sie lächelt auf den Fotos. Irgendwie ist sie wohl sowieso seelisch ausgeglichener als ich. Sie hatte sicherlich weniger Probleme als ich im Leben. Aber evt. wäre sie auch mit meinen Problemen ausgeglichener, gesünder.
Sie hat immer noch ihre roten Haare. Sie dürften inzwischen gefärbt sein. Ihre sehr helle Haut mit einigen Sommersprossen zeigt milde Sonnenschäden. Die Haut scheint auch trocken zu sein.
Ich fand ein aktuelles Foto von ihr und grübelte gleich. Sie ist jetzt so alt wie ihre Eltern damals waren, als ich mit am Tisch saß. Kaum zu glauben.
Ich weiß ja noch, wie sie früher aussah und finde, so sehr verändert hat sie sich nicht. Ihre Eltern kannte ich jung ja nie.
Man muss schon selbst ein gewisses Alter haben, um das Älterwerden anderer beobachten zu können.
Ich weiß nicht wie es dazu kam, aber ein Mal machte der Ex-Freund Tim mit mir im Sommer eine mehrstündige Radtour in die Umgebung.
Meine Freundin mochte kein Radfahren.
Wir unterbrachen unsere Tour in einem Restaurant-Café. Es war herrlich gelegen. Ein klassizistisches Schloss ganz in weiß, mit weißer Kieselstein-Terrasse. Wirklich idyllisch.
Und plötzlich tauchte meine Freundin Sonja (alle Namen geändert) auf. Ich war wirklich sehr überrascht. Sie setzte sich zu uns und bald fuhren wir weiter. Ob es Eifersucht war? Sonja zeigt keine Schwächen. Sie würde es nie zugeben.
Ich selbst war stets derart beladen mit Problemen - ich hätte S nie einen Grund zur Eifersucht gegeben. Daran habe ich keine Sekunde gedacht. Ich mochte S. ja auch. Und warum sollte sich ein Arzt für mich interessieren?
Ich studierte zwar, aber gesundheitliche Probleme verzögerten alles, ich musste 2 Examina bewältigen und ich ahnte, dass
meine berufliche Karriere gar nicht starten wird.
Obwohl diese Radtour über 20 Jahre her sein dürfte, erinnere ich mich an einen Satz von Tim Ich sei auch eine besondere Frau.
Später holte er mich ein Mal mit seinem Oldtimer ab und wir drehten eine Runde.
Die Partnerschaft zwischen beiden schien mir harmonisch zu sein. Meine Freundin - aus besserem Hause - erzählte, er habe ein problematisches Elternhaus und eine irgendwie problematische Schwester. Man habe ihm erst mal Grundregeln des guten Benehmens beibringen müssen.
Als ich ein Mal unter extremem Liebeskummer litt, durfte ich einige Tage zu ihnen kommen. Sonja mit mir in seiner Wohnung.
Dafür bin ich sehr dankbar. Leider war ich untröstlich verliebt und extrem schwer (verbal) verletzt worden. Diese klaffende seelische Wunde wollte einfach nicht verheilen. Was auch immer ich versuchte.
Ich erinnere mich noch. Sonja sagte später, das seien schwierige Tage für sie gewesen.
Darüber hinaus wurden meine Schmerzen für sie sichtbar. Ich konnte schon lange keine längere Zeit stehen, gehen.
Natürlich fragte ich auch sie um Rat. Sie machte ein paar Tests und schloss alles mögliche Erlernte aus und meinte lapidar, ich würde unter dem Tod meiner Mutter leiden. Dieser mag damals ca. 2 Jahre her gewesen sein.
Neulich habe ich Tim gegoogelt. Er hat die Stelle gewechselt. Er arbeitet wieder näher an seinem Zuhause, ganz hier in der Nähe. Er hat 3 YT-Videos hochgeladen. Aus seiner Klinik - er informiert über seinen Fachbereich in 3 Sprachen.
Er hat sich nicht sehr verändert. Ob er sich seine Haare auch färbt? Auf einem Video ist er unrasiert.
Ob er verheiratet ist?
Ich könnte auf YT einen Kommentar schreiben - den einzigen. Ihn grüßen.
Meine Selbstprognose von damals hat sich bewahrheitet - Ich bin ein akademischer Sozialfall. Was will so jemand mit mir?
Zudem bin ich deprimiert. Derart deprimiert, dass eine Partnerschaft das wahrscheinlich nicht ändern würde. Für Kinder ist es zu spät. Und überhaupt: Ich könnte geschlechtslos sein. Vielleicht es ist auch nur Schüchternheit. Wie dem auch sei: Wer will eine Partnerschaft ohne S.?
Ich bin mir nicht sicher. Vor ca. 10 Jahren ging ich am hiesigen Weihnachtsmarkt vorbei und glaubte, ihn alleine dort stehen zu sehen. Er oder jemand schaute mich aus der Ferne freundlich an. Aber ich war wohl in deprimierter Stimmung oder spontan überfordert und ging einfach weiter.
Ich habe viel Zeit und viele Jahre, auf die ich zurückblicken kann. Ich vermisse diese Zeit.
Das ist vielleicht typisch für die 50er. Man wird langsam alt und es geht in so vieler Hinsicht bergab.
In jüngeren Jahren ist man hoffnungsvoll, man hat noch so vieles vor sich. Endlich hat man die Schulzeit hinter sich. An der Uni herrscht Freiheit. Reisen, die Welt sehen. Dinge ausprobieren und entdecken.
Und jetzt bin ich genauso alt wie die Eltern von Sonja damals - und die kamen mir damals schon relativ alt vor.