Liebes @Heideblümchen ,
ich bin kein Verschickungskind, sondern musste von meinen Eltern aus für 8 Wochen an einer Erholungsmaßnahme teilnehmen, obwohl ich diese gar nicht nötig hatte. Das Heim (in Schaippach zwischen Gemünden am Main und Rieneck an der Saale) befand sich auch nicht allzu weit weg von daheim. Dennoch kam ich seelisch krank wieder nach Hause. Kontakt zu den Eltern war nicht erlaubt. Damals war ich 10 Jahre alt.
Die Info, dass noch Erholungsplätze frei waren, kam von der Schule. Meine Eltern, denen es wichtig war, dass man auch sah, wie sehr sie das Wohl ihrer Tochter im Auge hatten, waren sofort dabei. Meine Banknachbarin Brigitte war auch angemeldet.
Vorsicht Trigger!
Heimwehbekundungen wurden mit Zimmerarrest bestraft.
Wer seinen Teller nicht leer aß, bekam am nächsten Morgen zum Frühstück eine besonders große Portion dieses Essens hingestellt. Wer vor Kummer und Angst erbrach, bekam schmerzhaft in die Wangen gezwickt oder die Lippen gedreht.
Die Eltern der Kinder, die nach 8 Wochen nicht zugenommen hatten, wurden erstens über die Essensverweigerung unterrichtet und zweitens belehrt, wie man Kinder richtig erzieht.
Wer während des Mittagsschlafs aufstand, z.B. um zur Toilette zu gehen, kam in ein Extrazimmerchen, das abgeschlossen wurde. War das Bett nass oder voll, musste man vor dem nächsten Mittagsschlaf vor den Augen der andern Kinder auf dem Nachttöpfchen sitzen.
Ich bin mit massiven Störungen nach Hause entlassen worden. Zugenommen hatte ich nicht. Anstatt daheim getröstet zu werden, bekam ich von meiner Mutter zusätzlichen Ärger.
Noch bis ins Erwachsenenalter hatte ich Essstörungen. Unter Beobachtung anderer Menschen konnte ich nichts essen. Mir war schlecht, der Kreislauf machte schlapp. Erst wenn ich selber bestimmen konnte, wann ich was und wieviel esse, konnte ich etwas zu mir nehmen.
Um Salatgurken mit großen Kernen und um Wassermelonen mache ich immer noch einen großen Bogen.
Große Probleme bestehen seit der Erholung unverändert, wenn mir der Gang zur Toilette aus welchen Gründen auch immer verwehrt ist. Daher ist manchmal mein Aktionsradius noch eingeschränkt, bzw. ich überlege mir genau, wohin ich gehe und wie lange die Unternehmung dauert.
Wir Kinder mussten uns damals mit der Freundin an der Hand zu zweit aufstellen. Damals dachten wir, man käme mit der Freundin in eine Gruppe. Aber Tante Tini, die Erzieherin, teilte die Gruppen mittendurch. Wer rechts stand, kam in die eine, wer sich links befand, in die andere Gruppe. Ich sah Brigitte in den 8 Wochen kein einziges Mal, denn auch die Tischzeiten verliefen unterschiedlich.
Liebes Heideblümchen, ich glaub, solche Einzelheiten wolltest du vielleicht gar nicht wissen. Aber ich lass die Zeilen jetzt stehen, denn sie haben erstens gezeigt, wo ich noch viel Ballast abwerfen kann und zweitens hat das Schreiben einfach nur gut getan.
Danke für dein Thema!
LG von Anchi
12.10.2021 11:08 •
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