Liebe Maya, liebe Alexandra
leider sah die Wirklichkeit plötzlich so ganz anders aus als alles was ich je gelernt und erfahren hatte -
Ich habe die Wirklichkeit erlebt - die Begrenztheit der Wirklichkeit. Ich musste mich einer Wirklichkeit beugen, die ich so mir nie vorgestellt hätte. Es war, wie wenn mein Vater zum zweiten Mal von einem Lastwagen überfahren wurde - ich konnte daran nichts ändern und musste es akzeptieren als das was es war: eine Lebenswirklichkeit - von Menschen bestimmt und doch irgendwie Schicksal, das ich nicht beeinflussen konnte und akzeptieren musste. Heute kann ich es akzeptieren - es ist passiert. In mir ist seither das Bewusstsein da, dass eben auch menschliche Entscheide so sind wie Blitzeinschläge - man kann sie nicht in jedem Fall rational erklären - manchmal muss ich sie einfach aushalten.
Allein es hier Euch erzählen zu dürfen - Eure Worte dazu lesen zu dürfen - Ihr könnt nicht ermessen, was dies mir Gutes tut! Ich hätte damals meinen Vater fragen wollen - aber es war alles schon abgemacht, man hatte mich erst zwei Tage vor der Sitzung informiert - es war zu spät - und in der Sitzung sagte mein älterer Bruder mir ins Gesicht, ich würde lügen, mein Vater rede gar nicht mehr, ich würde dies erfinden, ebenfalls die Pflege sagte dies. Sie hörten ja nicht hin, wenn mein Vater sprach. Für sie war mein Vater ein Restkörper. Ich hatte Angst, wenn ich meinen Vater frage, kommt er erst auf die Idee und hat Todesangst. Darum fragte ich ihn nicht, weil ich ja keine Macht hatte, den Entscheid zu ändern.
Ja, Wertschätzung sieht eben anders aus. Auch die anderen haben damals darunter gelitten, dass sie meinten, sich entscheiden zu müssen. Man hätte einfach den Dingen seinen Lauf lassen sollen - es wäre für alle einfacher gewesen - aber man meinte, Gott spielen zu müssen. Das wäre nicht nötig gewesen. Es ist unsere Gesellschaft, die nichts akzeptieren will, was abläuft sondern alles im Griff haben will. Eben auch das Sterben. So entstehen dann solche Situationen, die unmenschlich sind für alle. Auch die anderen haben damals gelitten, das weiss ich heute. Die Pflege und meine Brüder. Es ist vorbei. Es tut mir nur unendlich gut, dass es Menschen gibt wie Euch, die verstehen und eine solche Situation aushalten würden. Das gibt mir meine Würde zurück. Und gibt mir Kraft. Damals dachte ich, ich sei geisteskrank, weil alle anderen anders empfanden als ich, das war das Schwerste. Heute weiss ich, dass ich einfach die Spannung besser ausgehalten habe als sie, ich, die so oft weinte, hatte mehr Kraft zum Hinschauen und Aushalten. Das weiss ich heute. Ja, Alexandra, das dachte ich damals eben auch und es erschien mir unglaublich willkürlich - noch heute kann ich es mir nicht erklären, welche Motivation die Menschen damals zu diesem Entscheid brachte. Ich weiss es schlicht nicht. Mein Vater hoffe ich hat es nicht gemerkt. Das ist das Einzige was ich immer noch darum bete. Es muss fürchterlich sein, sich zum Tode verurteilt zu wissen und nichts sagen zu können, ich war in diesen Monaten von dieser Angst besetzt, dass mein Vater etwas merkt. Es war fürchterlich. Aber - es ist vorbei. Vielleicht sage ich mir, hat es ja meinen Vater vor etwas Schlimmem bewahrt, wer weiss denn genau, wie er noch hätte leiden müssen. Darum: es war Schicksal - und ich darf es nicht bewerten - ich muss es annehmen. Aber dass es hier Euch gibt, wo ich es sagen darf und Antwort erhalte - für mich ist das eine unbeschreibliche Wohltat.
12.06.2019 21:25 •
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