Zitat von Sifu:Warum sind Depressionen in der westlichen Welt Volkskrankheit Nr. zwei oder sogar Nr. eins ?
Ich gehe davon aus, dass das gestiegene Verständnis eine große Rolle spielt. Das betrifft einerseits das Verständnis für die Krankheitsbilder an sich, deren Ursachen und Behandlung. Andererseits betrifft es das gesellschaftliche Bewusstsein darüber, dass es diese Krankheitsbilder gibt. Da ist freilich noch Luft nach oben, aber in vergangenen Jahrzehnten war sogar noch mehr
stell dich nicht so an. Man Dinger nur erfassen, wenn man ein Konzept davon hat.
Neben den offenen Augen heutzutage hört man auch oft die Annahme, wir stünden in unseren Gesellschaften unter immer höherem Druck. Globalisierung, Arbeitsplätze, Hunde und Katzen leben zusammen... Da
müsse man doch psychische Krankheiten entwickeln! Wobei ich persönlich eher vemute, dass sich die auslösenden Faktoren schlicht verschoben haben. Früher mag die jahrzehntelange Beschäftigung im selben Unternehmen fast selbstverständlich gewesen zu sein. Dafür war es für den Einzelnen weitaus schwieriger, sich bspw. als gleichgeschlechtlich zu outen. Dies scheint sich heutzutage fast umgekehrt zu haben. Andere Belastungen haben sich dagegen kaum verändert. Leistungsdruck allgemein; reale oder vermutete Ansprüche der Umwelt an den Betroffenen, Konfliktsituationen, spürbares (aber im Grunde völlig harmloses) Abweichen von gesellschaftlichen Normalitäten...
Zumal sich die Lebensumstände (im Durchschnitt) stark verändert haben. Wir leben heute in einer Welt mit speziellen Backrezepten, weil manche Leute ihren Hunden tatsächlich einen eigenen Kuchen zum Geburtstag präsentieren. Für unsere Freizeit bringen wir Ressourcen auf, deren Umfang weit über vergangenen Standards liegt. Wir (gemeint ist der Durchschnitt; nicht vergessen!) können es uns leisten. Wir leisten uns regelrechte Fetische für Autos, Videospielplattformen - ja sogar Werkzeugmarken. Es gibt mehr Platz für's
Ich, für die Entdeckung und Inszenierung - aber auch für das wachsame Auge darauf.
Daran mag vor 40, 60 Jahren nicht zu denken gewesen sein. Die Freizeit wurde stärker improvisiert, selbst gemacht. Das Geld brauchte man für Waschmaschinen, ein eigenes Badezimmer in der Wohnung oder manchmal überhaupt für ein Klo
im Haus. Die (Ur-)Großeltern mögen Kind Kegel über den Krieg gebracht und ihre Stadt neu aufgebaut haben. Unter all dem Anpacken war allerdings nicht so viel Platz für den Rest, wie heute. Spuren hat es dennoch hinterlassen, aber diese wurden oftmals mit keiner Silbe hinterfragt. Das meinte ich oben mit dem Bewusstsein und dies war sicherlich auch oft genug ein Grund dafür, diese Spuren aktiv zu verdrängen. Was sollen denn die Leute denken?
Und genau aus diesem Grunde denke ich auch nicht, dass es in anderen Kulturen derzeit besser aussehen könnte. Kulturen, in denen (Achtung, Klischeedenken) der eigene Gesichtsverlust oder die Schande über die ganze Familie
noch stärker präsent sind; wo etwa die Kinder ein noch wichtigeres Aushängeschild für ihre Eltern darstellen; wo ein noch größerer Wert auf überlieferte Ehrenkodizes und die Unterwerfung unter ebenjene gelegt wird. Aus meiner Sicht spielt es auch kaum eine Rolle, ob es nun darum geht, ein guter Untertan, ein frommer Muslim, ein anständiger Deutscher, eine sozialistische Persönlichkeit, ein echter Renault-Fahrer... zu sein. Viel zu umfassende Absolutheitsansprüche.
Dementsprechend möchte ich mich auch nicht so sehr auf große Gruppen, ob politisch oder kulturell, verlassen. Den Weg, den wir im Hinblick auf Depression, PTBS und sonstige Störungen gehen, finde ich schon nicht verkehrt. Mehr geht immer, aber das braucht auch Zeit. Zeit, um die Zusammenhänge besser zu erforschen und Zeit, um als Betroffener an sich arbeiten zu können. Das finde ich wichtig, weil viele Betroffene lernen müssen, authentisch für sich selbst einzustehen; zunächst gegenüber ihren Familien und Kollegen, im größeren Rahmen aber auch gegenüber der restlichen Gesellschaft. Wobei ich mich schwer tu, die Gesamtheit der Betroffenen als homogene Masse zu sehen. Trotz aller Gemeinsamkeiten haben die Krankheitsbilder schließlich eine große individuelle Komponente - und auf Kollektivismus reagiere ich sowieso allergisch.