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Kann ich nicht oder will ich nicht?

A
Hallo ihr Lieben,

ich bin noch neu hier im Forum und tu mich sehr schwer diese Zeilen hier zu verfassen, weil ich noch nicht mal eine vollständige Diagnose habe und mir nicht anmaßen will, annähernd so etwas zu erleben wie die meisten von euch.

Ich glaub, das ist auch schon mein Kernproblem: Ich möchte die Diagnose gern glauben, weil es mir auf eine perfide Art Erleichterung verschaffen würde, weil ich die Hoffnung habe, dass die immensen Schuldgefühle, dann etwas leichter zu ertragen sind oder sogar aufhören. Andererseits kommen sofort wieder Selbstvorwürfe auf, dass ich mich hinter der Diagnose verstecke und nur eine Ausrede für meine eigene Unfähigkeit suche.

Nach unzähligen Anläufen eine Therapie anzugehen, bin ich letzte Woche bei einer netten Therapeutin gelandet, die die vorläufige Diagnose Rezidivierende mittelgradige Depression gestellt und den Verdacht einer PTBS geäußert hat. Im ersten Moment dachte ich, Gott sei Dank, endlich, endlich gibt dir jemand die Erlaubnis, dich so zu fühlen, wie du dich seit zwei Jahrzehnten fühlst. Endlich bestätigt dir jemand, dass deine Welt irgendwie von einer Schwere belegt ist, die, für andere Menschen normale, Aufgaben oft zu unüberwindbaren Hürden machen. Doch es hat nicht lange gedauert und diese Gedanken waren wieder da, dass ich ihr ja mal wieder erfolgreich was vorgespielt hätte und ich wieder erfolgreich, um Aufmerksamkeit gebettelt habe. Ich habe den Versuch einer Therapie schon mehrfach gestartet und jedes Mal spätestens nach der zweiten Sitzung den Versuch wieder verworfen, weil ich diese Sitzungen immer nur dann auf die Reihe gekriegt habe, wenn ich eben gerade nicht im tiefsten Loch steckte und dann wieder bei der Überzeugung angelangt war, dass es mir nicht schlecht genug geht, um eine Therapie zu rechtfertigen.

Nun ist es dieses Mal aber so, dass ich zur Zeit meinen Alltag nicht mehr strukturiert bekomme. Ich habe mich beruflich verändert, weil ich die Belastung in meinem alten Job nicht mehr ausgehalten habe und dachte, ich müsste daran etwas drehen und alles wird gut. Doch jetzt sitze ich in einem wesentlich stressfreierem Job im HomeOffice und bin kaum in der Lage, meine Aufgaben abzuarbeiten. Ich merke deutlich, dass die körperliche Belastung nachgelassen hat und das macht es mir so schwer, die Diagnose zu akzeptieren. Das, was sich vor zwei, drei Monaten noch wie ein Ich kann einfach nicht mehr angefühlt hat, ist zu einem Ich will einfach nicht mehr geworden. Aber heißt das, dass ich könnte, wenn ich einfach nur wollte? Und liegt das Wollen nicht einfach nur an mir? Ist es also gar keine Depression, sondern einfach nur Unfähigkeit?

Ich kenne von mir wesentlich schlimmere Phasen, in denen ich permanent ängstlich, nervös und erschöpft war und in denen habe ich mich immer aufraffen können, arbeiten zu gehen. Zur Zeit bin ich nicht ängstlich und nervös, nur noch gleichgültig, lustlos und unmotiviert und raff mich quasi zu gar nichts mehr auf. Muss ich mich nicht eigentlich einfach nur zusammenreißen?

Vielleicht kann mein strukturloses Gebrabbel irgendjemand von euch verstehen und seine/ihre Erfahrung mit mir teilen. Und ich hoffe niemandem zu Nahe zu treten mit meiner Sache hier.

Liebe Grüße
Amae

20.09.2021 08:29 • x 2 #1


Heideblümchen
Guten Morgen, liebe @Amae ... als ich deine Geschichte gerade gelesen habe, fiel mir sofort mein eigener Zustand in der tiefsten depressiven Phase meines Lebens ein. Und ich war, wie du, genauso Zweifel- und Selbstvorwurf-geplagt wie du. Tauge ich nichts mehr (privat wie im Job), weil ich einfach keine Lust mehr verspüre, weiter zu machen? Es muss doch weiter gehen, aber nichts macht mehr Spaß, ich hatte keinen Drive mehr. Ich bin ja keine Ärztin, aber wenn es dich beruhigt, dann kann ich dir gerne bestätigen, dass ich dasselbe in der Depression erlebe wie du gerade. Und was genauso erstaunlich ist, das ist, dass es mir gerade jetzt im Moment wieder schlechter geht - vermeintlich ohne Grund - obwohl doch alles bei mir so gut läuft. Ich persönlich schiebe das auf den Jahreszeitenwechsel, weil da die Hormone sich wieder von Sommer (mit Sonnenschein) auf den Herbst/Winter (nass, kalt, früher dunkel, später hell) umstellen. Für mich jedes Jahr eine sehr anstrengende und depressive Zeit.

Und wie du beschreibst, geht es auch mir gerade. Ich habe auch das große Glück, im Home-Office arbeiten zu können. Aber ich schiebe meine Arbeit aktuell ständig auf. Ich habe keinen Antrieb, sie zu erledigen und warte damit immer bis zum letzten Moment. Dann bricht natürlich Panik aus, weil mir mein Chef mit Time-Lines im Nacken sitzt. Jeder weiß, dass ich vorbelastet bin, aber es nutzt ja nichts. Ich fühle mich schuldig, weil ich keine Lust habe. Keinen Antrieb. Aber auch keinem auf den Wecker gehen möchte, weil ich mich nicht fähig fühle, etwas zu machen. Und auch keine Idee habe, wie ich meine Situation ändern könnte. Dann fängt das Gedankenkarussell an, sich zu drehen. Jobwechsel? Zu anstrengend. Mehr Ruhe gönnen? Eigentlich keine Zeit dafür. Eine komplette Auszeit nehmen? Und dann? Alles nicht das Gelbe vom Ei.

Ich kann dir nicht die Lösung aller Probleme anbieten. Aber ich finde es toll, dass du zumindest schon mal eine Therapeutin gefunden hast, die dich ernst nimmt, die dir die Augen öffnen kann, die dich unterstützen kann. Nimm diese Hilfe an! Akzeptiere aber auch, dass du die Diagnose, die sie gestellt hast, tatsächlich hast und es auch eine Nebenwirkung der Depression ist, sich schuldig zu fühlen. Auch zu denken, man übertreibt vielleicht maßlos. In der Depression (und nicht nur da) wirkt nicht nur alles immer viel schlimmer als es ist. Oft kommen in den Tiefs Dinge ans Tageslicht, die einen furchtbar beschäftigen. Die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Und leider neigt unsere Gesellschaft immer noch dazu, einen schnellen Fluß vorzugeben. Man MUSS funktionieren, um zur Gesellschaft dazu zu gehören, effizient zu sein. Nein! Man muss sich, wenn es einem nicht gut geht, ausruhen. Schonen. Mal einen Gang runterschalten, auch wenn es schwer fällt. Und um Schubladen zu öffnen und darüber zu sprechen, wo die Ursachen für Depressionen und PTBS liegen, ist es wichtig, ganz offen zu sein. Auch zu sich selber. Von daher: lass dir helfen. Nimm alle Hilfe an, die du bekommen kannst. Egal, ob es erst mal medikamentös ist oder nicht. Oder mit mehr Therapiestunden, wenn möglich......und natürlich kann es auch hilfreich sein, hier mitzulesen, wie andere Betroffene mit ihren Krankheiten umgehen. Ich wünsche dir, dass es dir bald besser geht. Liebe Grüße und alles Gute!

20.09.2021 09:05 • x 2 #2


A
Liebes @Heideblümchen,

Vielen lieben Dank für deine schnelle Antwort. Ich habe mich sehr gefreut von dir zu lesen und deine Worte haben mich wirklich etwas beruhigt. Man ahnt es immer irgendwie und liest es überall als eines der Symptome, aber sich mit diesen Gedanken dann tatsächlich als Teil einer Depression auseinanderzusetzen und diese als Symptom anzuerkennen, ist eine ganz andere Nummer.

Vielen Dank für den Zuspruch, die Hilfe anzunehmen. Ein weiteres Symptom ist wohl bei mir die Tatsache, dass ich mir selbst nicht mehr traue und mich auf mein Urteilsvermögen einfach nicht mehr verlassen kann bzw. es noch nie wirklich konnte. Aber ich muss wohl einfach anerkennen, dass es bei psychischen Problemen nun einmal nicht das sichtbar gebrochene Bein gibt. Umso besser ist es, zu lesen, dass andere ähnliche Erfahrungen machen.

Ich kenne das mit den Jahreszeiten. Deswegen habe ich auch so einen großen Respekt davor, dass es jetzt wieder in den Winter geht. Die letzten Jahre war es immer so schwer im Winter, dass ich mir dieses Jahr schon den halben Sommer Sorgen gemacht habe, dass er bald rum ist. Obwohl der Sommer mir dieses Jahr auch nicht die erhoffte Erlösung gebracht hat. Ich fühle mich genau, wie du es beschrieben hast: Keinen Spaß, keine Lust, keinen Drive. Alle Dinge, die ich tue, schaffe ich nur mit immenser Willenskraft oder aus Pflichtgefühl. Aber die Barriere wird immer größer und mein Kopf schreit innerlich wie ein kleines Kind: "Ich will nicht mehr! Lasst mich einfach alle in Ruhe! Und das ohne dass irgendjemand konkrete Anforderungen an mich geäußert hätte.

Ich wünsche dir sehr, dass du eine gute Lösung für dich findest. Ich kann dein Dilemma sehr verstehen, v.a. weil es ja eh schon schwierig ist, überhaupt zu spüren, was einem gut tun würde und das dann gegen alle gesellschaftlichen Erwartungen durchzusetzen ist so schwierig. Wenn mir die Frage gestellt wird, was mir jetzt gut tun würde, hab ich da gar keine Antwort mehr drauf. Mein Impuls ist, zu antworten, dass ich auf der Couch liegen bleiben möchte, aber da kommen dann ja die Schuldgefühle und Selbstvorwürfe und wenn mein sehr verständnisvoller Partner mich überzeugen will, mich wenigstens etwas zu bewegen und an die frische Luft zu gehen, werde ich wütend und ungehalten.

Aber ich habe bei der Therapeutin ein gutes Gefühl und kann zumindest sagen, dass ich nicht hoffnungslos bin. Ich glaube auch zu spüren, dass dieses immense Bedürfnis, nichts mehr tun zu müssen, aus der Erkenntnis beruht, dass mich u.a. mein permanentes Inneres Antreiben in diese Situation gebracht hat. Die Diagnose fühlt sich ein Stück weit wie die Erlaubnis an, endlich loslassen zu dürfen und dadurch kommt ne ganze Menge hoch.

Ach schon wieder so viel geschrieben, aber das Ausformulieren der Gedanken hilft und zu wissen, dass es hier Menschen gibt, die es verstehen, hilft noch viel mehr. Vielen Dank!

Liebe Grüße
Amae

20.09.2021 11:37 • x 3 #3