steelrose
- 110
- 5
- 136
Jetzt im Moment fühle ich es und das zerreißt mich
Wir haben gerade telefoniert. und zum ersten Mal habe ich ganz deutlich gemerkt, dass ich keine Kraft mehr hatte. Ich wollte gern auflegen und weinen.
es ist schon immer schwierig. Sie ist depressiv, fast seit ich denken kann. alleinerziehend, drei Kinder, drei SZV. ich hatte vergessen (verdrängt?), dass ich es war, die zu früh aus der Schule heimkam. Ich habe mich immer gefragt, ob, wenn ich etwas älter gewesen wäre, ich ihr nicht besser zur Seite hätte stehen können. Irgendwie waren wir es aber alle 3. Jeder auf seine Weise. Ich, die zum Reden, das Emotionale, alles, auch über die Vergangenheit. Zumindest später. Trotzdem war es gut, dass ich weggezogen bin. Gut für mich.
Mit der Entfernung war es leichter und als sie endlich mal medikamentös richtig eingestellt war, kehrte auch so etwas wie Normalität ein. Klar, die Geschwister vor Ort mussten sich zunehmend mehr kümmern, körperlich ging es ihr auch früh schon nicht so gut. Trotzdem, es kehrte Ruhe ein, wir hatten schöne Besuche und irgendwann kam sie auch mich besuchen. Das alte schien verdaut, alles gut.
Doch jetzt habe ich das Gefühl, mich holt Altes ein. Ich komme aus einer Rolle nicht raus, die ich früh eingenommen hab, mir vermutlich auch lange half, mir aber wahrscheinlich dennoch nicht gut tut.
Sie hat Krebs. Das weiß ich von meiner Cousine. Ihr hat meine Mutti es als Einzige gesagt. Sie haben ein gutes Verhältnis, meine Tante und meine Mutti waren sich sehr nah, wir hatten bei ihr viele schöne Sommer und auch später noch Stunden verbracht. Meine Cousine hat mir im Frühjahr eine SMS geschrieben, dass wir uns noch eine gute Zeit mit Mutti machen sollen. Sie musste es einfach loswerden, sie hatte bereits ihrer Mutti zuschauen müssen. Aber ich sollte bitte das Vertrauen nicht brechen.
Ich belas mich. Ärzte raten Betroffenen sich eine Vertrauensperson zu suchen. Das gab mir Verständnis, aber keinen Rat, umzugehen. Also beschloss ich zunächst nur, die aufgrund Corona ausgefallenen Besuche dieses Jahr nachzuholen. Mutti, ich komme jetzt jeden Monat, ich war ja solange nicht da. Ich hatte Angst, meinen Geschwistern gegenüber zu treten, sagen ging nicht, schweigen ging nicht. Irgendwie ging es doch. Und dann kam der Tag, an dem ich meiner Mutti sagte, dass ich es weiß. Das Gespräch war offen, schmerzhaft aber auch kurz. Sie möchte nicht darüber nachdenken. Aber es ist für sie ok zu wissen, nicht mehr ewig zu müssen. Das konnte und kann ich verstehen, sie hat schlichtweg zu wenig Teilhabe am Leben, schon lange. Ihr Verhältnis zu Ärzten ist schlecht, ihrer Hausärztin hat ihre Klagen über Schmerzen ignoriert, erst als der Befund eines durch die Orthopädin veranlassten MRT vorlag, schloss sie sich mit einem CT an. Ich erfuhr von Metastasen an der Wirbelsäule, der Rippe und in der Hüfte. Mehr als den Rat einen Onkologen aufzusuchen, lies sie nicht zunächst nicht zu. Ein OK es meinen Geschwistern zu sagen, konnte ich ihr nicht abringen. Als ich es einige Wochen trotzdem tat, bebte ich am ganzen Körper. Ich kam mir vor wie eine Verräterin und gleichzeitig schuldig, denn ich legte ihnen ebenso die Bürde der Verschwiegenheit auf.
Diese ist seit ein paar Tagen zum Glück von ihnen genommen. Nach Monaten hatte sie sich an eine Onkologin gewandt, die, als sie den zweiten Termin wegen Schmerzen absagte, einen Krankenwagen wegen des Risikos des Wirbelbruchs schickte. Die anfängliche Erleichterung, sie nun in kompetenten Händen zu wissen, wich relativ schnell der Frage: OP oder nicht? Während meine Schwester vor Ort alles erledigte, versuchte ich per Telefon die Fragezeichen, Sorgen, Ängste meiner Mutti zu sortieren. Sie fühlte sich halb überrumpelt über die schnelle Aktion und bedrängt durch einen Arzt, als ginge es bei der OP mehr um ihn als um Sie. Gleichzeitig ist sie sich sicher, dass sie ein Misslingen der OP nicht verzeihen könnte, lieber sollte die Zeit zeigen, ob ihrer Entscheidung dagegen falsch ist. Nachdem weitere Ärzte ihr mitteilten, dass die OP nicht so dringend sei und erst nächste Woche geplant würde, entließ sie sich selber.
Und nun ist sie wieder bestätigt. Darin, dass keiner ihre schmerzenden Hände ernst nimmt. Darin, dass die eine Ärztin dem anderen eine OP zuschieben wollte. Darin, dass sie Objekt ist. Darin, dass ihr kein Arzt glaubt, aber Ärzte immer Recht haben. Darin, dass ihr keiner klar gesagt hat, dass sie gelähmt sein könnte, bevor es vorbei ist. Und allein mit dieser Angst.
Ich kann die Vorstellung kaum ertragen, wie sich das anfühlt und das sie damit allein ist. Aber ich weiß auch, dass ich versucht habe, ihr klar zu machen, was sie hat. Sie gebeten habe, zu Ärzten zu gehen. Jede Gelegenheit in der sie bereit war darüber zu sprechen, genutzt habe um ihre Fragen so gut ich konnte zu beantworten, recherchiert habe welche Möglichkeiten es im palliativen Rahmen gibt, die schlimmsten Risiken zu vermeiden. Immer ein Ohr für sie hatte, egal was sie gerade umtrieb und mir immer wenn sie Ablenkung brauchte, schöne Gedanken hergezogen habe, auch wenn ich eigentlich selber gerade kaputt und müde war.
Das alles fällt auch leicht. Schwer ist es, die Vorwürfe zu ertragen, die sie der Welt entgegenbringt und auch bzgl. Vergangenem einfach nicht loslassen kann. Den Geschwistern, die etwas nicht erledigt oder besorgt haben. Den Ärzten, die sie nicht ernst nehmen. Den eigentlich befreundeten Nachbarinnen, die eben auch ihre Marotten haben. Mir, die ich sie nicht verstehe, wenn ich versuche zu vermitteln oder eine andere Sichtweise aufzuzeigen.
Und heute habe ich gemerkt, wieviel Kraft ich dafür brauche. Und das ich die nicht habe. Und, dass ich wütend bin, dass sie immer so viel Kraft braucht. Dass sie nichts positives sehen kann. Dass sie keine Freundin, Schwester, Psychologin an ihrer Seite hat. Dass sie Angst hat und nicht auf ein freudvolles Leben zurückschauen kann, aber ihre Angst hinter so viel Frust verbirgt, dass es unmöglich scheint, ihr eine Hand zu reichen.
Ich habe mich immer dagegen gewehrt, so über sie zu denken. Habe auch gegenüber meinen Geschwistern oft aufgezeigt, dass es nicht nur so ist. Aber heute, bei diesem Telefonat, das eigentlich nicht anders war als schon so viele, war es kein Gedanke, sondern ein Gefühl, dass mich übermannt hat.
Es tut weh, wütend zu sein. Egal ob auf sie oder wegen ihr. Beim Schreiben ist die Wut etwas verflogen, aber zurück bleibt Leere.