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Was mir am meisten fehlt

A
Es gibt da etwas was ich vermisse. Genau genommen schon seit vielen Jahren, allerdings ist es mir erst vor einiger Zeit so wirklich bewusst geworden.

Zwar kann ich in erster Linie nur von meinem eigenen Umfeld sprechen, allerdings bin ich mittlerweile der Meinung, dass es ein Problem ist welches allgemein in unserer Gesellschaft auch sehr verbreitet ist.

Worum es mir geht ist, dass ich finde, dass viele Menschen nicht richtig zuhören.
Oder genauer gesagt, sich nicht für einen interessieren.




Nun zur Veranschaulichung 3 Beispiele

1. Beispiel mein Mitbewohner
Am ersten Tag hat er mir über mehrere Stunden quasi seine komplette Lebensgeschichte erzählt.
Da dachte ich mir erstmal nur ok ist halt ein sehr mitteilungsfreudiger Geselle, ist ja erstmal nichts schlechtes.

Am zweiten Tag jedenfalls erzählt mir der Kollege einfach nochmal seine Lebensgeschichte. Nicht ganz exakt gleich, hier und da kam dann noch ein Detail dazu das ich noch nicht kannte, aber im Grunde war es halt wieder dasselbe.

Und am dritten Tag, na was kam, natürlich wieder seine Lebensgeschichte, plus bisher unveröffentlichte Szenen und Bonusmaterial.



Er war auch jedes mal total motiviert bei seinen Erzählungen, und ich bemerkte deutlich seine Enttäuschung, als ich ihm sagte dass er mir das doch schon mehrmals erzählt hatte und ich jetzt nichts für ungut, auch noch was anderes zu tun hatte.

Also man kann sagen nach wenigen Tagen wusste ich quasi alles über den Kollegen.
Der Punkt ist aber, dass er im Gegensatz dazu selbst nach mehreren Monaten einfach gar nichts über mich wusste. Name und Alter, das wars im Prinzip.

Nicht weil ich so verschlossen gegenüber ihm gewesen wäre. Ich hatte ein paar mal angefangen von mir zu erzählen, aber es wurde schnell offensichtlich, dass es ihn relativ null interessiert, wenn er nach ein paar Sekunden einen unterbricht, dauernd auf sein Handy schaut, oder einfach weggeht und etwas anderes macht.





Das zweite Beispiel ist eine ehemalige Therapeutin von mir

Bei dieser Frau kam ich mir vergleichsweise eher wie im Unterricht vor oder als wenn sie einen Vortrag hält und ich bin halt der Zuhörer.
Es lief in der Regel so ab: Nach der Begrüßung setzten wir uns, sie fragte kurz wie es mir geht, und ob so grob alles in Ordnung sei. Dann fing sie direkt an zu reden und hörte einfach nicht mehr auf.

Sie erzählte stundenlang über therapeutisches Fachwissen das sie erworben hatte, über ihren beruflichen Werdegang, Erfahrungen mit ehemaligen Patienten, wie schwierig es oftmals sei eine Diagnose zu stellen usw etc.
Wobei ich mich irgendwann fragte wie sie mir eigentlich eine Diagnose stellen kann, wenn der Gesprächsanteil zu 90% nur bei ihr liegt.

Also ich will jetzt nicht sagen dass diese Stunden kompletter Waste waren, manches was sie erzählt hat fand ich durchaus interessant.
Aber sollte es in der Therapie nicht eigentlich etwas mehr um mich gehen?





Das dritte Beispiel ist mein Vater, ein Mensch den ich seit 30 Jahren kenne, der sich aber irgendwie immernoch fremd anfühlt.

Jahrelang hätte ich das Verhältnis zu ihm als normal bezeichnet, habe nie hinterfragt.
Irgendwann dachte ich wir haben halt ein distanziertes Verhältnis, das ist eben so.
Heute kann ich mit Sicherheit sagen, dass mein Vater sich niemals in irgendeiner Weise für mich interessiert hat.

Dabei ist es nicht so dass ich mit ihm nicht reden könnte.
Im Vergleich zu den zwei anderen Beispielen hat er zumindest die Höflichkeit einem zeitweise zuzuhören.

Allerdings läuft es im Endeffekt aufs selbe hinaus wenn man jemand etwas erzählt und darauf einfach keinerlei Feedback erfolgt.
Man wünscht sich zumindest irgendeine Art von emotionaler Reaktion, denke ich.



Eine Sache die ich bei ihm als extrem empfinde ist, dass er alles was ihn nicht interessiert direkt wieder vergisst.
Mit anderen Worten, alles was mit mir zu tun hat.

Und das war so seit ich mich erinnern kann.
Völlig egal was ich erzählte ob von Schule, Freunden, Hobbys, Sport, Freizeit, am nächsten Tag wusste er davon nichts mehr.

Parallel dazu hat er auch so gut wie nie von sich selbst erzählt, höchstens mal wies in der Arbeit war, wenn es an dem Tag einen Vorfall gab oder so, aber nie über seine Vergangenheit oder irgendwas persönliches.



Ich erinnere mich auch nicht dass er mir jemals irgendetwas beigebracht hätte.
Von sich aus sowieso nicht, und wenn ich als Kind zu ihm kam und fragte ob er mir etwas zeigen kann, blockte er immer ab und antwortete dann zb so: jetzt strengste mal deinen Kopf an, dann kommste da auch von selber drauf!



Für mich ist mein Vater einfach der Inbegriff von Desinteresse.

Und mir ist bewusst geworden, dass diese hoch konzentrierte Form von Desinteresse die ich damals immer als normal kennen lernte, bis heute viel zu meiner depressiven Symptomatik beigetragen hat.

Nicht zuletzt weil ich jahrelang Freundschaften und Beziehungen mit Menschen hatte, die genau so sind, und sich im Endeffekt absolut null für mich interessierten.




Ich habe sehr lange gebraucht um das zu erkennen.
Momentan empfinde ich es einfach als schwierig, Leute zu finden die nicht so sind.
Unsere Gesellschaft ist ziemlich oberflächlich, die meisten Menschen sind sehr auf sich selbst fixiert.

Anderen zuzuhören erfordert Zeit. Sich darauf einzulassen und emotional damit auseinanderzusetzen setzt eine gewisse Geduld, Interesse und Empathie voraus.
Vielen Menschen fehlt es genau daran, denke ich.

25.04.2022 20:00 • x 11 #1


Pauline1962
@4am ... ja, ich verstehe genau, was du meinst.
Viele Menschen haben ein enormes Mitteilungsbedürfnis - interessieren sich aber im Gegenzug überhaupt nicht für den anderen. Das ist mir auch oft aufgefallen - und ich beobachte mich genau, ob ich genau so bin und wenn ja, dann möchte ich dagegen ansteuern. Aber das bringt natürlich auch nichts - also wenn man aufmerksam zuhört - wenn man dann eigentlich nur noch mehr zugelabert wird.

Besonders beobachte ich das bei alten Menschen - und bei jungen Menschen. Ich bin irgendwie genau in der Mitte. Auf Familiefeiern reden die hochbetagten Eltern ständig - und immer wieder Dinge, die man eh schon kennt ... und die jungen Leute reden vom Studium, von Kindern, Hauskauf, sonstigen Plänen. Ich - um die 60 - sitze dann da und höre zu - für mich interessiert sich niemand. Hinzu kommt, dass ich krank bin, nicht mehr arbeite ... da sinkt man dann automatisch irgendwie in der Beachtung. Was soll man auch erzählen!? Und selbst wenn man interessante Hobbies hat - dann ist es noch lange nicht gesagt, dass andere das auch interessant finden und was darüber hören wollen.

Ich habe keine Ahnung, was man da machen kann.
Ich für mich versuche aber, mich selbst zu beobachten, dass ich nicht selbst so bin oder so werde.

26.04.2022 04:41 • x 6 #2


A


Hallo 4am,

Was mir am meisten fehlt

x 3#3


Stromboli
Lieber @4am

Herzlich willkommen und lieben Dank für deine Zeilen, sie sind mir nahegegangen beim Lesen. Besonders was du von deinem Vater erzählst. Da fühle ich durch meine eigene Geschichte sehr mit dir.

Was die Therapeutin betrifft, da musst du dir ja im falschen Film vorgekommen sein. Konnte ich erstmal fast nicht glauben. Natürlich gibt es unfähige Theras, wie überall, aber gerade so?! Ich hoffe, du bist dort nicht lange geblieben.

Und dein Mitbewohner, na ja. Ich möchte ihn nicht als Mitbewohner, so wie du ihn beschreibst. Solchen Menschen gehe ich aus dem Weg und versuche sie im Übrigen nicht zu verurteilen, sie haben auch ihre Geschichte, aber mir täte der Kontakt nicht gut.

Du tönst es selber an und ich denke, das unbarmherzige Resonanzgesetz lässt einen eben oft die Sorte Menschen wieder treffen, die man in der Familie erlebt hat, weil damit ist man vertraut. Und wenn es nicht förderlich war, hat man dann die Aufgabe, sich bewusst davon weg zu entwickeln ... da bist du unterwegs, habe ich den Eindruck.
Es gibt schon Menschen, die gerne zuhören und das auch können, die interessiert sind an dir. Ich wünsche dir, dass du ihnen begegnest!

Herzlich Stromboli

26.04.2022 06:40 • x 5 #3


ZeroOne
Hallo @4am ,

ich persönlich denke, dass jeder Mensch eine Geschichte hat, die er auch gerne erzählen möchte - auf welche Art auch immer.

Zwischenzeitlich kann ich mir auch wieder bewusst die Zeit nehmen zuzuhören und genieße es, denn nicht selten kann ich aus den Erzählungen anderer etwas wertvolles für mich mitnehmen. Und wenn das Gegenüber dann auch noch das Gefühl hat, gesehen und gehört zu werden, ist alles prima.

Leider fehlt es den meisten Menschen an Zeit und / oder Interesse. Und ich würde das auch gar nicht mal unbedingt auf die aktuelle Zeit schieben, selbst wenn die digitalen, sozialen Netzwerke die Oberflächlichkeit fördern.

Auch sehe ich es oft auch, wie @Pauline1962 : wer zuhört, wird oft als Mülleimer missbraucht. Wenn man da keine klaren Grenzen setzen kann, wird es zum Problem.

26.04.2022 07:24 • x 4 #4


Jedi
Hallo @4am

Zitat von 4am:
dauernd auf sein Handy schaut,

Das hasse ich auch u. ich verbitte es mir auch, wenn ich mich verabredet habe u. ich bemerke,
das die Info auf dem Handy wichtiger erscheint, wie unser Gespräch.
Imag es auch gar nicht, wenn beim Gespräch schon das Handy liegt, dies würde ich gelten lassen, wenn man Arzt
in der Rufbereitschaft wäre, aber nicht, wenn man sich Verabredet hat u. sich Unterhalten möchte.
------
Zitat von 4am:
Aber sollte es in der Therapie nicht eigentlich etwas mehr um mich gehen?

Leider bist Du da an eine nicht professionelle Therapeutin geraten u. ganz klar ist es, dass in einer Therapiesitzung,
es immer um den Klienten zu gehen hat.
Die persönlichen Geschichten der Therapeutin haben da nichts zusuchen.
Sicherlich hat mein Therapeut auf mal etwas Persönliches einfliessen lassen, da war ich aber schon länge Zeit
bei ihm in Therapie.
Da hattest Du einfach Pech !
-------
Zitat von 4am:
Für mich ist mein Vater einfach der Inbegriff von Desinteresse.

Schade, was Du da beschrieben hast u. sicher mag es für Deinen Vater so manche Gründe geben,
warum er sich so vehält - verhalten hat.
Manchmal ist es so, dass solche Menschen selbst sehr viel desinteresse erfahren haben u. nun sind sie selbst
auch nicht in der Lage u. auch nicht Willens, interesse anderen gegenüber zeigen zu können oder gar zu wollen.
- ist jetzt aber nur so meine Vermutung - , aber für ein Kind ist es natürlich schädlich eine solche Erfahrung und
das macht auch was mit Einem.
--------------------------------------------------
Zitat von 4am:
Unsere Gesellschaft ist ziemlich oberflächlich, die meisten Menschen sind sehr auf sich selbst fixiert.

Villt. mag es auch an der Reizüberflutung liegen ?
Eine Infomation jagt die nächste u. unsere Smartphones können sowohl ein Segen, aber auch ein Fluch sein.
Auch diese ständige Erreichbarkeit, die in manchen Berufen gefordert ist, wirkt oft , wie ein schleichendes Gift.
So heißt es ja auch, die Dosis macht das Gift !

Dies schnelle aufnehmen von Informationen, lässt leider die Konzentration auch vermindern.
--
Zitat von 4am:
Anderen zuzuhören erfordert Zeit. Sich darauf einzulassen

Ja, dass stimmt u. oftmals habe ich auch schon in Gespräche gedacht, dass alles möglichs kompremiert
erzählen zu müssen, weil es sonst für den anderen zu Langweilig wird.
Es stimmt, dies zuhören können - aushalten können - dem anderen auch die Zeit zulassen, dass was ihm/ihr
wichtig ist, auch erzählen zu können das fehlt oftmals, bei manchen Menschen.
Manchen fehlt auh einfach die nötige Konzentration, zuzuhören u. sich auf das Gespräch einzulassen,
weil bei manchen Menschen während der andere erzählt, ein ganz eigener Film in ihm abläuft.
So bekommt die Person gar nicht mit, was der/ die andere überhaupt erzählt hat.
------
Zitat von 4am:
Geduld, Interesse und Empathie voraus.
Vielen Menschen fehlt es genau daran, denke ich.

Das sind sicher Kriterien, die zu den Vorrausetzungen gehören, um ein schönes u. interessantes Miteinander
erlebbar zu machen !

26.04.2022 17:54 • x 4 #5


Pilsum
Hallo 4am,

Zitat von 4am:
Worum es mir geht ist, dass ich finde, dass viele Menschen nicht richtig zuhören.
Oder genauer gesagt, sich nicht für einen interessieren.


was Du hier sagst, kenne ich auch. Ich finde es gut, dass Du das erkannt hast. Letztendlich kommt
es dann darauf an, was Du aus Deinen Erkenntnisen machst und wie Du damit umgehst.
Die meisten Menschen vermissen es, dass ihnen mal jemand zuhört.

Zitat von 4am:
Ich habe sehr lange gebraucht um das zu erkennen.
Momentan empfinde ich es einfach als schwierig, Leute zu finden die nicht so sind.


Es wird auch immer schwierig bleiben, Menschen zu finden, die sich auch mal mehr für Dich
interessieren.
Wichtig scheint mir etwas zu sein. Du weißt, was Du vermisst. Nämlich, dass Dir jemand zuhört.
Folglich bietest Du Dich anderen meistens als Zuhörer an. Zum Einstieg in Gespräche finde ich
dies klug. Leider verstehen Menschen das mitunter etwas falsch, wenn Du ihnen lang zuhörst.
Sie denken vermutlich. Was für ein netter Mensch! Endlich mal jemand, der das schätzt, was ich
zu sagen habe.

Selbst eine Therapeutin scheint auf Deine unterbewusst sehr freundliche und zurückhaltende
Art hereinzufallen.
Dabei sollte sie genau wissen, dass sie so etwas keinenfalls machen darf.

Zitat von 4am:
Heute kann ich mit Sicherheit sagen, dass mein Vater sich niemals in irgendeiner Weise für mich interessiert hat.

Zitat von 4am:
Für mich ist mein Vater einfach der Inbegriff von Desinteresse.


Dein Vater scheint Dir mit seinem Verhalten ziemlich geschadet zu haben. Das tut mir sehr leid.
Vermutlich wusste er es nicht besser.
Sein geringes Interesse an dem, was Du gesagt und gemacht hast, scheint Dich geprägt zu haben.
Nun wirst Du bei allen Menschen besonders darauf achten, ob sie wohl an Dir interessiert sind.

Zitat von 4am:
Und mir ist bewusst geworden, dass diese hoch konzentrierte Form von Desinteresse die ich damals immer als normal kennen lernte, bis heute viel zu meiner depressiven Symptomatik beigetragen hat.

Das kann gut so sein.

Zitat von 4am:
Nicht zuletzt weil ich jahrelang Freundschaften und Beziehungen mit Menschen hatte, die genau so sind, und sich im Endeffekt absolut null für mich interessierten.


Menschen sind meistens eher egoistisch. Wäre das nicht so, sähe unsere Welt anders aus.
Dir wünsche ich, dass Du Deine Weltanschauung geringfügig veränderst, damit Du zukünftig
positiver auf Menschen zugehen kannst.
Viele Menschen meinen es nicht böse, machen aber sehr viel (falsch?), wenn es um Gespräche und
Beziehungen geht.
Kannst Du Dir vorstellen, dass Du zukünftig anderen Menschen gegenüber etwas egoistischer wirst?

Dies kannst Du immer wieder überall üben.

Viele Grüße

Bermhard

22.05.2022 11:33 • x 1 #6


Tealight
Zitat von 4am:
Es gibt da etwas was ich vermisse. Genau genommen schon seit vielen Jahren, allerdings ist es mir erst vor einiger Zeit so wirklich bewusst geworden. ...

Der überwiegende Teil der Menschen macht das....
Man merkt es auch oft hier im Forum!
Jemand schildert sein Problem und die Antworten da drauf, ist die Geschichte vom gegenüber - der ausführlich seine eigene Geschichte erzählt.
Manchmal muss ich dabei schmunzeln, einfach über die Reaktion,vom gegenüber .....
Dieses schmunzeln ist nicht böse gemeint, aber es passiert....

Fakt ist, die meisten Menschen sind so mit sich beschäftigt, das sie es nie gelernt haben, dem anderen zuzuhören.....

Allein aus dem Grund sollte man gerade bei Kindern da drauf achten, das Gespräche auf Gegenseitigkeit beruhen. Dh das Kind ausreden lassen und im gegenzug das Kind da drauf aufmerksam machen, auch zuzuhören, wenn ich was sage. Somit lernt das Kind zuzuhören und da draus entsteht eine Kettenreaktion bis ins Erwachsenenalter.
Somit wird gelernt, zuzuhören...

22.05.2022 11:46 • x 2 #7

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