Wie die Erinnerungen verdrängen?

JeanLucca
Hallo Fakefur.

Zitat von Fakefur:
Auf der einen Seite möchte ich gern alles wegschieben und endlich normal leben,
Ja, das ist verständlich und sehr menschlich. Diese Sehnsucht treibt uns an das wir aushalten und irgendwann beginnen etwas Neues zu versuchen als zu verdrängen.

Zitat von Fakefur:
... auf der anderen Seite weiß ich, das das so nicht möglich ist. Das es nur hilfreich sein kann, wenn ich es irgendwo integriere.
Genau. Denn unsere Vergangenheit ist ein Teil von uns. Unsere Identität. Es geht nur über den Weg das wir sie akzeptieren und nicht mehr ändern können.

Zitat von Fakefur:
Mein Therapeut und ich sprachen vor einigen Wochen über meine Kindheit. Nur ein wenig.
Jeder hat seine eigene Zeit wann er etwas bearbeiten kann. Vielleicht ist Deine Zeit jetzt gekommen.
Natürlich schmerzt es wenn Du darüber sprichst und Dich erinnerst an das, an das Du Dich gar nicht erinnern willst. Ich glaube aber das es der richtige, wenn nicht sogar der einzige, Weg ist um die Vergangenheit anzunehmen. Ich finde es gut das Du mit Deinem Therapeuten darüber sprichst. Ich möchte Dir gerne Mut zusprechen dabei zu bleiben. In Deinem Tempo. Immer nur ein wenig.

Lieben Gruß und viel Kraft, JeanLucca

02.09.2011 11:21 • #1


soulmate88
Hallo Fakefur,

deine Worte bleiben mir echt im Halse stecken. Ich weiß gar nicht was ich dazu sagen soll, ich kann mir kaum einen größeren Horror vorstellen.
Wie alt bist du jetzt eigentlich?
Wenn es dir gut tut hier zu schreiben, tue es ruhig. Sofern es einem überhaupt gut tun kann über soetwas zu schreiben...
Aber bitte pass dabei gut auf dich auf.

Liebe Grüße
soulmate

02.09.2011 19:26 • #2


A


Hallo JeanLucca,

Wie die Erinnerungen verdrängen?

x 3#3


JeanLucca
Zitat von Fakefur:
An dieser Stelle fühle ich das was ich bin, als große Zumutung.


Als ich ein kleiner Junge war, war ich vollkommen vom Zirkus fasziniert, und am meisten gefielen mir die Tiere. Vor allem der Elefant hatte es mir angetan. Wie ich später erfuhr, ist er das Lieblingstier vieler Kinder. Während der Zirkusvorstellung stellte das riesige Tier sein ungeheures Gewicht, seine eindrucksvolle Größe und seine Kraft zur Schau. Nach der Vorstellung aber und auch in der Zeit bis kurz vor seinem Auftritt blieb der Elefant immer am Fuß an einen kleinen Pflock angekettet. Der Pflock war allerdings nichts weiter als ein winziges Stück Holz, das kaum ein paar Zentimeter tief in der Erde steckte. Und obwohl die Kette mächtig und schwer war, stand für mich ganz außer Zweifel, daß ein Tier, das die Kraft hatte, einen Baum mitsamt der Wurzel auszureißen, sich mit Leichtigkeit von einem solchen Pflock befreien und fliehen konnte.
Dieses Rätsel beschäftigt mich bis heute.
Was hält ihn zurück?
Warum macht er sich nicht auf und davon?

Als Sechs- oder Siebenjähriger vertraute ich noch auf die Weisheit der Erwachsenen. Also fragte ich einen Lehrer, einen Vater oder Onkel nach dem Rätsel des Elefanten. Einer von ihnen erklärte mir, der Elefant mache sich nicht aus dem Staub, weil er dressiert sei.
Meine nächste Frage lag auf der Hand: »Und wenn er dressiert ist, warum muß er dann noch angekettet werden?«
Ich erinnere mich nicht, je eine schlüssige Antwort darauf bekommen zu haben. Mit der Zeit vergaß ich das Rätsel um den angeketteten Elefanten und erinnerte mich nur dann wieder daran, wenn ich auf andere Menschen traf, die sich dieselbe Frage irgendwann auch schon einmal gestellt hatten.
Vor einigen Jahren fand ich heraus, daß zu meinem Glück doch schon jemand weise genug gewesen war, die Antwort auf die Frage zu finden:
Der Zirkuselefant flieht nicht, weil er schon seit frühester Kindheit an einen solchen Pflock gekettet ist.
Ich schloß die Augen und stellte mir den wehrlosen neugeborenen Elefanten am Pflock vor. Ich war mir sicher, daß er in diesem Moment schubst, zieht und schwitzt und sich zu befreien versucht. Und trotz aller Anstrengung gelingt es ihm nicht, weil dieser Pflock zu fest in der Erde steckt.
Ich stellte mir vor, daß er erschöpft einschläft und es am nächsten Tag gleich wieder probiert, und am nächsten Tag wieder, und am nächsten … Bis eines Tages, eines für seine Zukunft verhängnisvollen Tages, das Tier seine Ohnmacht akzeptiert und sich in sein Schicksal fügt.
Dieser riesige, mächtige Elefant, den wir aus dem Zirkus kennen, flieht nicht, weil der Ärmste glaubt, daß er es nicht kann.

Allzu tief hat sich die Erinnerung daran, wie ohnmächtig er sich kurz nach seiner Geburt gefühlt hat, in sein Gedächtnis eingebrannt.
Und das Schlimme dabei ist, daß er diese Erinnerung nie wieder ernsthaft hinterfragt hat.
Nie wieder hat er versucht, seine Kraft auf die Probe zu stellen.

Jorge Bucay

02.09.2011 20:05 • #3


soulmate88
Ein wirklich fantastischer Text, JeanLucca

02.09.2011 20:51 • #4


JeanLucca
Hallo Fakefur.

Genau das war auch meine Frage, damals. Wie kann ich mich von meinen Fesseln lösen? Bei mir war es so, dass ich gar nicht wusste wie gefesselt ich überhaupt war.

Zitat von JeanLucca:
Bis eines Tages, eines für seine Zukunft verhängnisvollen Tages, das Tier seine Ohnmacht akzeptiert und sich in sein Schicksal fügt.
Hier bin ich hängengeblieben. Lange. Ziemlich lange.

Für mich gibt es für den Elefanten nur einen Weg - er geht los. Bei seinem ersten Schritt wird er den Pflock rausreissen und hinter sich herziehen weil er ja an einer Kette hängt. Er geht jetzt also - lebt. Mit Kette und Pflock am Bein. Ich habe ziemlich lange hin und herüberlegt wie ich die Kette von meinem Bein bekomme um ohne sie zu sein. Aber das ist unmöglich.

Meine Vergangenheit ist ein Teil von mir, sie gehört zu mir. Auch die Teile die ich nie wollte - sie gehören zu mir. Sie sind an mein Bein gebunden worden. Ich lebe jetzt mein Leben so wie ich es will und weiß das ich diesen Pflock hinterherziehe. Aber ich muss nicht mehr grübeln wie sehr er mich festhält - ich kann laufen und mich mit ihm beschäftigen wenn ich es will. Dann setz ich mich hin und spreche mit jemanden über meinen Pflock.
Mittlerweile kann ich sogar meinen Pflock anfassen, ihn hochheben wenn ich spüre das er sich gleich verhakt beim laufen.

Lieben Gruß, JeanLucca

04.09.2011 06:58 • #5


JeanLucca
Hallo Fakefur.

Darf ich Dich mal nach Deinen Therapien fragen? Du bist jetzt in ambulanter Behandlung. Warst Du schon mal auf einer stationären Therapie - Traumatherapie? Bekommst Du Medikamente - Antidepressiva's?

Mich interessiert es jetzt nicht im speziellen zu diesem Threadthema sondern Themenübergreifend. Damit ich mir vorstellen kann wo Du insgesamt stehst und welche Schritte Du schon gegangen bist.

Lieben Gruß, JeanLucca

19.09.2011 05:20 • #6


JeanLucca
Hallo FakeFur.

Zitat von Fakefur:
Ich habe etwas anderes bekommen. Nämlich ein großes Geschenk. Zeit.
Ich finde es bemerkenswert das Du es als ein Geschenk empfindest Zeit bekommen zu haben. Finde ich toll. Sicher ist es nicht einfach jetzt diese Zeit zu füllen oder das Gefühl abzulegen diese Zeit jetzt füllen zu müssen oder auch das Gefühl allein mit der Zeit zu sein (sich selbst auszuhalten ohne Zeitvorgaben) - aber Deine Einstellung dazu strahlt positiv.

Lieben Gruß, JeanLucca

22.09.2011 07:35 • #7

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