Oh, Weltschmerz. Und oh, der Beitrag wird lang!
Gleich vorweg: Ich würde nicht unbedingt von Einbildung (klingt sehr negativ) sprechen, und schon gar nicht von Wahn. Eher von von einer verzerrten Wahrnehmung, von einem jugendlichen Blick (der dir nun wirklich nicht anzulasten ist) und möglicherweise von fehlenden Kontexten. Damit stehst du bei weitem nicht allein da.
Du hast eine Vorstellung davon, wie die Welt deiner Meinung nach sein sollte - und du siehst, dass die Realität deinem Wunsch nicht entspricht. Das kann unangenehm sein.
JuliaW hat da einen wichtigen Punkt mit den Medien angesprochen und ich möchte meine Sichtweise anhängen. Es wird berichtet, was interessiert und es gibt einen hohen Zeitdruck. Das war schon immer so. Ein gewisser Filter ist dem Nachrichtenwesen also inhärent und das ist nicht zwangsläufig schlecht. Es würde dir, deinem Blick, der Entwicklung deiner Ansichten, nichts bringen, Nachrichten über den neuen Zebrastreifen in Gräfentonna zu lesen.
Allerdings kommt es regelmäßig schon an diesem Punkt zu einer Verzerrung. Katastrophen und schwere Unfälle sind große Nachrichten und wenn irgendwo ein Airbus abstürzt, häufen sich manchmal die Meldungen über andere Zwischenfälle - selbst wenn es um Kleinkram wie einen abgebrochenen Start geht, wo letztlich alles perfekt vorschriftsmäßig ablief. Plötzlich scheint immer mehr zu passieren.
Heute ist auch die wirtschaftliche Lage vieler Printmedien sehr angespannt. Wenige Mitarbeiter müssen viel Content erzeugen, selbst wenn sie vom Thema nicht viel Ahnung haben. Allerdings fehlt oft die Zeit, sich einigermaßen ins Thema einarbeiten zu können. Da liest man manchmal über Themen, mit denen man sich etwa von Berufs wegen gut auskennt, und stellt fest: Der Autor hat keinen Schimmer. Die Darstellung ist sachlich falsch oder viel zu stark verkürzt.
Das kann dazu führen, dass ein Sachverhalt unangemessen dramatisch kommuniziert wird und Leser mit noch weniger Fachwissen denken sich, wie furchtbar! Skandal! Das scheint gerade in der Wissenschaftskommunikation sehr ausgeprägt, weil wissenschaftliche Studien und Statistiken richtig gelesen werden müssen. Oft werden Thesen verbreitet, welche sich mit den zitierten Zahlen gar nicht untermauern lassen, oder irgendwelche Effekte werden übertrieben dargestellt. Man atmet auf, weil das tägliche Glas Rotwein entzündungshemmende Stoffe enthält. Steht so in der Zeitung! Derweil erhöht der Alk. im Wein das Krebsrisiko. Oder wenn sich jemand über ein vermeintlich zu niedriges Budget für [irgendein Ressort] im Bundeshaushalt echauffiert und dabei ausblendet, dass genau dieses Ressort Ländersache ist, und dass die Bundeskanzlerin nicht einfach einen Scheck über 50 Milliarden für Grundschulen schreiben kann.
Dann gibt es im Journalismus - ich verallgemeinere hier jetzt - anscheinend einen Zeitgeist der Präsenz und Erziehung. Manche Journalisten beanspruchen für sich einen Auftrag, der weit über das Berichten hinaus geht. Damit ist der Journalismus aber nicht allein, denn auch jede denkbare Interessengruppe ist ebenso betroffen. Da werden nicht nur reine Sachverhalte berichtet, sondern das eigene Interesse, die subjektive Sichtweise, wird eingearbeitet. Was im vorigen Absatz noch ungewollt geschieht, bekommt hier eine Absicht und wird teilweise ungeheuer hässlich. Außerdem: Wenn die größten Schreckensszenarien an die Wand gemalt und als unausweichlich verkauft werden - warum sollte man dann überhaupt noch etwas verändern? Die Apokalypse ist doch angeblich schon längst da.
Und da wäre natürlich noch die Leserschaft. Menschen mit wenig Ahnung von einem Thema sind abhängig von den Leuten, die mehr wissen. Es gibt Menschen, die sehr aktiv hinterfragen und selbst recherchieren. Das ist einerseits gut, andererseits müssen sich diese Menschen ihrer eigenen Grenzen aber bewusst sein. Es nützt nichts, wenn sie Primärquellen finden und diese nicht richtig verstehen. Es gibt aber auch Menschen, die kaum hinterfragen. Es gehört nicht zu ihrer Lebensrealität, aus welchen Gründen auch immer. Wenn diese Menschen korrekt informiert werden sollen, ist ihre Abhängigkeit also besonders ausgeprägt. Zwischen beiden Gruppen finden sich allerhand Schattierungen.
Außerdem unterliegt jeder Mensch einer confirmation bias, einem Bestätigungsfehler. Wir lesen am liebsten, was unsere Ansichten bestätigt. Damit muss man sehr bewusst umgehen, wenn man sich sachlich informieren möchte.
Durch die Möglichkeiten des Internets ist das alles sehr deutlich geworden, weil der Zugriff auf Information (und natürlich Desinformation) ungemein leichter wurde. Vor rund 15 Jahren hat es sich schon gezeigt, obwohl die Kommunikation damals noch stärker auf Foren, Chats und Newsgroups beschränkt war. Man musste diese Umgebungen noch selbst suchen. Die sozialen Medien haben das stark verändert und selbst wenn man bestimmte Inhalte nicht aktiv sucht, bekommt man sie immer wieder in die eigene Timeline gespült. Wenn man sich dem entziehen will, dann ist das teilweise sehr aufwändig und mag ein Gefühl des Abgeschnittenseins mit sich bringen.
Leserkommentare in den Online-Ausgaben der Zeitungen sind eh die Pest.
Genug Mediengeheule.
JuliaW und Lara80 sind noch auf etwas Anderes eingegangen, was ich sehr wichtig finde: Wie sieht es denn nun tatsächlich aus?
Dazu halte ich eine Erkenntnis für unabdingbar: Die Welt ist nicht perfekt und wird es nie sein. Das muss man akzeptieren, wenn man sein Leben nicht in ewigem Lamento verbringen möchte. Daran führt kein Weg vorbei. Der Anspruch an eine perfekte Welt ist unrealistisch und wenn er zuviel Raum einnimmt, dann wird es auch noch ungesund. Demnach kann man sich Utopien als Ziel auch abschminken. Sie können Impulse für einzelne Verbesserungen geben, aber sie werden insgesamt unerreichbar sein. Für mich persönlich gehen sie auch am Menschen - so wie ich ihn wahrnehme - vorbei. Ich finde sie (die Utopien) mittlerweile echt gruselig.
Es werden immer schlimme Dinge geschehen. Dinge, die Menschen einander antun; im Affekt, aus Glaubensgründen oder Ideologie, durch Gleichgültigkeit oder aus Versehen.
Es werden auch immer schlimme Dinge geschehen, die wir nicht beeinflussen können.
In beiden Fällen können wir aber Wege suchen, um die Schäden zu verringern und diese Aussicht empfinde ich schon positiv. Vielleicht siehst du an dieser Stelle, dass der Perfektionsanspruch für die Katz' ist.
Tatsächlich kann ich mir vorstellen, dass es in einigen Bereichen in naher Zukunft großes Getöse geben kann, dass große Schäden entstehen werden und dass mühsam neu angefangen werden muss. Das ist aber vor deiner Geburt, vor meiner Geburt, und lange vor deinen Urgroßeltern immer wieder passiert - und in einigen Fällen kam danach etwas Besseres.
Es ist noch gar nicht so lange her, da haben sich hier in Deutschland zwei verfeindete Strömungen nicht nur mit Steinen beworfen oder einzelne Gewaltakte gegeneinander verübt, sondern sich auf offener Straße beschossen. Die Situation heute kotzt mich auch an, aber mit Bürgerkrieg ist das nicht zu vergleichen und ich sehe keinen neuen Bürgerkrieg aufziehen - auch wenn sich manche Sprachrohe beinahe darauf zu freuen scheinen.
Mit der Armut ist es so eine Sache. Welchen Armutsbegriff nutzt man in welchem Zusammenhang? Mit einer relativen Armut kann man Aussagen über Ungleichheit oder Ungleichverteilung treffen. Das ist als Kampfbegriff nützlich, wenn man Gleichverteilung anstrebt und per Definition lässt sich relative Armut auch nur auf diese Weise beseitigen. Klingt erstmal toll, aber es gibt ja noch die absolute Armut. Man definiert einen Mindeststandard und schaut, wie viele Menschen noch nicht einmal diesen genießen. Verknüpft mit extremer Armut. In einigen Gesellschaften könnte dann Gleichverteilung, also die Abschaffung der relativen Armut, den durchschnittlichen Lebensstandard in Richtung der absoluten Armut verschieben. Alle sind gleich arm - hurra!
Dabei sind Mindeststandards nicht in Stein gemeißelt und manche als arm bezeichnete Bevölkerungsgruppe lebt heute nicht viel schlechter (manchmal sogar besser), als der Nachkriegsdurchschnitt. So ungefähr kommt das auch in dem Artikel rüber, den JuliaW verlinkt hat.
Die durchschnittliche Lebenserwartung ist weltweit gestiegen, ebenso Alphabetisierung und die Bildungsniveaus. Einst lebensbedrohliche Krankheiten sind heute ortsweise ausgerottet oder lassen sich gut behandeln.
Das heißt noch lange nicht, dass es allen Menschen gut geht. Durchschnitt und individuelle Fälle sind zwei Paar Schuhe. Aber es ist besser geworden.
Seit dem Dieselskandal berichten einige kommunikative Leute bei jeder Gelegenheit von ihren Nahtoderfahrungen, wenn ein Euro-5-Diesel durch ihre Straße fährt. Die Schadstoffe sind real, aber früher war die Luft dicker und es gab mal die große Angst vor einem allgemeinen Waldsterben in Deutschland.
Vor einem Jahr hätte man meinen können, die Welt stünde am Rande eines Atomkriegs. Das wurde jedenfalls suggeriert, weil sehr viele Menschen Donald Trump nicht mögen (nachvollziehbar) und sich jeglichen Ängsten hingegeben haben. Confirmation bias, persönliche Abneigung, Unwissenheit, Sendungsbewusstsein, Internet. The perfect storm! Dass es im Oval Office keinen roten Knopf gibt, mit dem man unbürokratisch das nukleare Arsenal gen Pjöngjang oder Moskau schicken kann - egal! Dabei war die Möglichkeit eines dritten Weltkriegs in der Vergangenheit mehrfach ungemein größer, weil es echte Vorfälle gab, und nicht bloß ein paar blöde Tweets.
11.09.2018 12:30 •
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